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Zeigt das Internet unseren wahren, in der Realität unterdrückten Charakter ?

Begonnen von Bretzelburger, 23 Februar 2009, 11:54:00

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Bretzelburger

Durch diverse Diskussionen zuletzt sowieso schon in diese Richtung sensibilisiert, bekam ich heute eine interessante Seite in der Süddeutschen zu lesen, die sich mit dem Thema beschäftigt.

In diesem Fall ging es um weibliche Verhaltensmuster, die sich aber problemlos generalistisch anwenden lassen. Während wir im Realleben zurückhaltend, vielleicht sogar schüchtern verklemmt sind, lassen wir im Internet die Sau raus. Die Gründe, warum Jemand im Realleben vielleicht gemobbt wird (was grundsätzlich eine Schweinerei ist), lassen sich im Internet umkehren. Hier können Machtverhältnisse künstlich geschaffen werden, indem man eigene Regeln aufstellt und sich zum Herrn über Andere aufschwingt. Das erfordert aber immerhin Intelligenz und Begeisterung, denn ohne das Schaffen einer wie auch immer gearteten Community, bleibt man allein mit seinen Regeln.

Was aber keine Intelligenz (und schon gar keinen Mut) erfordert, ist das Bashing anderer Menschen. Versehen mit einem Pseudonym und unter Unterdrückung der meisten relevanten Daten, lässt es sich bequem austeilen. Wenn mir Jemand im Internet besonders selbstbewusst auffällt, schaue ich immer nach seinen privaten Angaben und muss fast immer feststellen, dass dort Fantasieorte, Altersangaben jenseits der Rentengrenze usw. stehen. Was vielleicht vordergründig lustig sein soll und bei Nachfrage gern mit einer weit verbreiteten Paranoia begründet wird, hat für mich immer den faden Beigeschmack der Feigheit. In der Süddeutschen wird das als Schulhofmentalität bezeichnet, die sich dadurch definiert, dass man Andere ausgrenzt und beurteilt, um sich selbst damit zu erhöhen.

Von mir selbst kann ich behaupten, dass sich mein Verhalten hier nicht von meinem realen Verhalten unterscheidet. Auch die Menschen, die ich bisher persönlich kennenlernen durfte, waren grösstenteils so, wie ich sie im Internet kennengelernt hatte. Im Gegenteil erwies sich das als durchaus positiv, denn z.B. "nonames" ironischer Stil, weswegen ich mich vor knapp 3 Jahren im WM 2006 Thread mit ihm gestritten hatte, bekommt in der Realität einen ganz anderen Hintergrund. Aber die meisten User (meine Frage bezieht sich auf allgemeine Erfahrungen im Internet) lernt man nicht kennen und man bekommt doch den Eindruck, dass sie sich gerne hinter dem Computer verschanzen.

Wie seht ihr das persönlich, wenn ihr euch selbstkritisch beurteilt, und habt ihr ähnliche Erfahrungen gemacht ?

pm.diebelshausen

23 Februar 2009, 12:58:50 #1 Letzte Bearbeitung: 24 Februar 2009, 01:18:46 von pm.diebelshausen
Danke für diesen Thread!  :respekt:

Ich finde, das sind hochspannende Fragen, denn die Kommunikationsform Internet und auch das, was sie mit uns macht, was sie ermöglicht, was sie aber auch an Mängeln gegenüber anderen Wegen des Austauschs hat, ist noch relativ jung. Da darf man gespannt auf Langzeitstudien warten. Derlei Artikel wie in der Süddeutschen (ich las vergangene Woche im Spiegel über die Depressionen bei jungen Leuten, die ihre Probleme zwar im Netz bequatschen, aber eben nicht in der Realität bearbeiten) sind nur die Spitze eines spannenden Eisberges, an dem nichts zerschellen wird, der uns aber neue Blicke auf den Menschen werfen lässt.

Ich denke auch, dass ich hier ungefähr so bin wie sonst auch. Aber ich werde es niemandem verübeln können, der jetzt sagt: Ja, ja, schon klar. Da hilft nur weitergehendes Kennenlernen.

Paranoia und Anonymität: ich kenne die Beobachtung, die Du bezüglich gerade der nervigen, auffallenden User gemacht hast, sehr gut. Ist so. Aber ich möchte noch eine Ausnahme einräumen: bei einigen, mir privat bekannten Personen macht es Sinn, dass sie gerade mit ihrem Alter nicht hausieren gehen. Denen schenke ich das und sie sind auch nicht diejenigen, die im Netz rumpöbeln.

Ja, ich glaube, das Internet und diese Art zu kommunizieren verfälscht. Das heißt aber nicht, dass andere Kanäle "richtiger" oder weniger verfäschend sein müssen. Es geht bei uns Menschen, sobald 2 zusammentreffen, immer um Selbstinszenierung. Was will ich von mir darstellen? Was ist mir wichtig, dass der andere es sieht, hört, glaubt? Ich muss da immer an John Lennon und Yoko Ono denken, deren Bag-Ins in den 70ern die Kommunikation abstrahieren sollten: weg von den oberflächlichen Details wie Haut- und Haarfarbe - aber auch Mimik!

Im Internet ist wie bei jeder Kommunikation wichtig, was ich denn erreichen will. Was will den so ein Pöbelrumdepp? Bestimmt nicht Zustimmung, Akzeptanz, neue Freunde. Wahrscheinlich kompensiert er oder sie nur Frust aus dem anderen Leben, den sie sich dort nicht zu verarbeiten trauen (vgl.  die erwähnte Spiegel-Geschichte). Oder sie brauchen den Zustand der Ablehnung, des Frustes, den sie selbst hervorrufen (vgl. What the Bleep...).

So oder so ist das Internet ein Spiegel der Gesellschaft - mit all den Dingen, die mir oder Dir oder dem Einen oder Anderen persönlich extrem missfallen bis hin zu Perversionen, die in verschiedenen Staaten heutzutage verschieden gehandhabt werden. Das ist das Schöne und auch das Schreckliche am Netz.

Es ist, wie so oft, das Spektrum zwischen Freiheit und Sicherheit. Dieses Begriffspaar halte ich für enorm wichtig und mit ihm lassen sich viele Phänomene beschreiben - nicht erst seit 9/11. Mir geht die Freiheit immer vor und damit eine gewisse Unsicherheit, zu der eben auch die Spassels in einem Forum gehören.

Moonshade knows what I mean. Les das als Differenzierung des bereits gesagten.
Es gibt viele, die nicht reden, wenn sie verstummen sollten, und andere, die nicht fragen, wenn sie geantwortet haben.

Roughale

Sehr interessanter Thread!

Ich versuche relativ so im Internet zu agieren, wie ich auch sonst bin, klar, man kommt dann aber doch leicht (bis stark) anders rüber, als man es denkt - daher finde ich es immer gut, wenn man sich auch mal richtig kennenlernt, was nicht immer möglich ist, aber wenn es sich ergibt, dann ist es auch meist ein erfolrreiches und gutes Erlebnis gewesen, ob nun national mit Leuten von hier, oder international bei Konzerten, mit Leuten von den Message Boards der Band.

Klar gibt es viele, vieleicht sogar die Mehrheit, die sich im Internet hinter einer Maske verbergen, entweder um das auszuleben zu dem sie im echten Leben nicht in der Lage sind (meist durch Hemmungen). Diese meine ich aber recht schnell erkennen zu können, da wird mit verschiedenen "Taktiken" dann nachgehakt, einige erkennen die gute Absicht und lernen auch was draus, andere pöbeln weiter - macht auch nichts, man kann halt nicht mit jedem, aber oft freundet man sich mit denen am besten an, mit denen man sich heftigst gestritten hat, ich hatte da mal einen heftigen Fall auf einem Black Crowes Message Board, wir beide wurden für einen Monat wegen unseres offen ausgetragenen Streit gesperrt und dann freundeten wir uns per e-mail immer mehr an - es geht, leider habe ich ihn nie persönlich kennen gelernt aber einige seiner freunde und die meinten, dass sie das haben kommen sehen, er sei halt so ;)

Um auf die frage des Threads zurückzukommen, möchte ich noch zusammenfassend sagen, dass man diese nicht so einfach beantworten kann, da man nicht davon ausgehen kann, dass jeder mit derselben Absicht ins Internet geht.

esta es la mejor mota
When there is no more room for talent OK will make another UFC

Grusler

Hmm...Naja, die Impulse dafür, irgendwelche Dinge zu denken oder zu tun, die man vor anderen Leuten nicht denkt oder tut, die gibt und gab es auch schon vor der Einführung des Internets. Das Internet stellt einfach eine bequeme Erweiterung zur Verwirklichung dieser Fantasien und Gedanken dar.
Ich finde schon, dass man am Internet, bei aller Information und Ernsthaftigkeit, die "verborgenen Seiten" der Menschen unserer Gesellschaft ablesen kann.
Fragt sich nur, wer ist man wirklich? Das sexuell verwirrte Monster, was virtuelles Mobbing zur Egosteigerung betreibt, perverse Snuff- und Pornofilme ansieht und sich anonym zu Gewalttaten, Befriedigung der Sexsucht und abwegiger Perversionen verabredet, u.s.w. Oder der selbstinszenierte Charakter, den man vor anderen Leuten spielt? Wer kann das schon sicher voneinander trennen? :doof:
ROCK 'N' ROLL WIRD NIEMALS STERBEN, IHR SCHEISSER!
 -Rollie LeBay


Ko(s)misches Sein.

Seemops

Erstmal möchte ich nachhaken, wie das jetzt im Kontext von weiblichen Verhaltensmuster lesen lässt???

Weiterhin möchte ich noch zu bedenken geben, dass es sich beim Internet um eine andere Kommunikation handelt, als sonst im Leben: Es fehlen andere Aspekte der Kommunikation, z.B. nonverbale Signale. Es handelt sich einfach um ein anderes Zeichensystem, das auch anders gedeutet werden muss. Mimik, Gestik usw. fallen einfach raus.

Von daher kann es schon gut passieren, dass bestimmte Dinge anders rüberkommen, als man glaubt, und es deswegen in meinen Augen auch immer viele Missverständnisse entstehen.

Davon ab gehört es aber schon eine Menge dazu, sich eine Scheinrealität bzw. -identität zu kreieren. Das ist schon ein Unterschied zu dem eher unbewussten Reduzieren der eigenen Persönlichkeit.
"Ford - ich glaube, ich bin ein Sofa!"

pm.diebelshausen

Liebe Mops,
es gibt ja bezeichnenderweise Emoticons - das Bedürfnis, die fehlenden Aspekte einer direkten Gesprächssituation (am Telefon fehlt die Mimik ebenso) zu kompensieren ist anscheinend groß.

Ich denke, die Internetkommunikation abverlangt uns mehr Selbstreflexion als andere Kommunikationen: wer sich nicht überlegt, was wie kommt, und ob jetzt nicht ein Zwinkern angebracht wäre, um keinen Krieg anzuzetteln, hat schnell verloren, weil er und auch sie umgehend mißverstanden wird.

Man kann auch positiv formulieren: das Internet ermöglicht es uns, Seiten unserer Persönlichkeit zu zeigen, die wir ansonsten eher verstecken, z.B. weil sie nicht gesellschaftlich anerkannt sind, oder wir zumindest das Gefühl haben, zu den Loosern zu gehören, wenn wir sie zeigen. Das müssen ja nicht zwingend negative Eigenschaften sein. Manche Menschen sind im Netz einfach mutiger, was ihnen beim Bäcker nicht gelingt.

Um noch mal klar auf Bretzels Ausgangsfrage zu antworten: das Internet zeigt unseren Internetcharakter, der sich zum Teil mit unseren anderen Charakteren überschneidet.

Von Wahrheit würde ich da nicht sprechen, zumal eine Person meiner Meinung nach ohnehin nicht auf einen Charakter festzunageln ist. Wir sind je nach Kontext und Zeitpunkt im Leben innerhalb unserer Haut bereits verschieden. Ich bin einem Freund gegenüber ein Anderer als in der Gruppe meiner Arbeitskollegen oder während einer Beerdigung. Wir sind Rudelchamäleons und ändern uns immer wieder. Was ist da der Kern, die Wahrheit, das, was die Person ausmacht?
Es gibt viele, die nicht reden, wenn sie verstummen sollten, und andere, die nicht fragen, wenn sie geantwortet haben.

Grusler

Zitat von: Seemops am 24 Februar 2009, 11:29:36
Erstmal möchte ich nachhaken, wie das jetzt im Kontext von weiblichen Verhaltensmuster lesen lässt???

Genau so, oder? Was soll da groß anders sein? Es gibt einen Geschlechterunterschied, aber ansonsten ist das doch ein und der selbe Schuh, würde ich mal behaupten.

Zitat von: Seemops am 24 Februar 2009, 11:29:36
Davon ab gehört es aber schon eine Menge dazu, sich eine Scheinrealität bzw. -identität zu kreieren. Das ist schon ein Unterschied zu dem eher unbewussten Reduzieren der eigenen Persönlichkeit.

Na ja, unbewusstes Reduzieren, gibt es das überhaupt? Ich meine, wenn man z.B. zur Arbeit geht, ist das doch eher ein bewusstes Reduzieren der Persönlichkeit(en). Man nimmt sich zusammen, heisst das dann, glaube ich. :icon_mrgreen:

Zitat von: pm.diebelshausen am 24 Februar 2009, 13:23:29
Um noch mal klar auf Bretzels Ausgangsfrage zu antworten: das Internet zeigt unseren Internetcharakter, der sich zum Teil mit unseren anderen Charakteren überschneidet...
....Von Wahrheit würde ich da nicht sprechen, zumal eine Person meiner Meinung nach ohnehin nicht auf einen Charakter festzunageln ist. Wir sind je nach Kontext und Zeitpunkt im Leben innerhalb unserer Haut bereits verschieden. Ich bin einem Freund gegenüber ein Anderer als in der Gruppe meiner Arbeitskollegen oder während einer Beerdigung. Wir sind Rudelchamäleons und ändern uns immer wieder. Was ist da der Kern, die Wahrheit, das, was die Person ausmacht?

Der Kern müsste eigentlich das "Ich" sein und nicht die tausend verschiedenen "Personen", die einem beiwohnen. Hört man auf sein Herz, hört man auf den Kern, das was bei einem schon immer so war und nicht zu ändern ist. Das müsste die Wahrheit darstellen. Der ganze Rest, der einem anerzogen und antrainiert wurde, den man teils selbst erschaffen hat, der mehr schlecht als recht ist, das ist doch eine Art Lüge und wenn man ehrlich ist, ist auch immer nur "Das" dafür verantwortlich, wenn es mal wieder bergab geht.
Ich unterteile es in das "Ich" (der Kern) und das Ego. Letzteres ist doch auch das, was dafür sorgt, immer gemeiner, perverser, u.s.w. zu werden. Aber wie ich schon fragte, wer kann das hier in dieser durchgeknallten Gesellschaft noch voneinander trennen?

Sind wir alle schizophren? Und sorgt das Internt nicht dafür, immer schizophrener zu werden? Ich weiss ja auch nicht...denn eigentlich sollte man nur eine Stimme im Kopf haben und nicht für jeden "Charakter" eine. :icon_confused:
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psychopaul

Mir tut bei diesem ganzen Philosophieren immer der Kopf weh.  :icon_lol: Das "Ich" und das "Ego", na das ist doch mal wieder ein echter Grusler. :D :)

Deshalb behaupte ich: Man ist immer die Summe dieser ganzen Teile, die hier angesprochen wurden. Selbst das sog. Verstellen in gewissen Lebenslagen, alles zusammen macht die Persönlichkeit aus. Schließlich zwingt einen niemand, bei einem Begräbnis betroffen zu sein, wenn es einem egal ist oder so. Oder man ist es auch selbst, der vielleicht einen Beruf ergreift, wo man sich anders benehmen muß, als man es gerne würde.  ;)

Natürlich gibt es bestimmte Höflichkeitsformen etc. aber das ist für gewöhnlich nur minimal.
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Seemops

Zitat von: Grusler am 24 Februar 2009, 17:16:39
Zitat von: Seemops am 24 Februar 2009, 11:29:36
Erstmal möchte ich nachhaken, wie das jetzt im Kontext von weiblichen Verhaltensmuster lesen lässt???

Genau so, oder? Was soll da groß anders sein? Es gibt einen Geschlechterunterschied, aber ansonsten ist das doch ein und der selbe Schuh, würde ich mal behaupten.

Ich glaube, du hast nicht ganz verstanden was ich meinte. Bretzelburger hat das Ganze damit eingeleitet, dass er irgendwas gelesen hätte, wo es um weibliche Verhaltensmuster ging, die man aber generalisieren kann. Da frage ich mich jetzt, wo da der Zusammenhang war, also rein informativ.

Zitat von: Grusler am 24 Februar 2009, 17:16:39
Zitat von: Seemops am 24 Februar 2009, 11:29:36
Davon ab gehört es aber schon eine Menge dazu, sich eine Scheinrealität bzw. -identität zu kreieren. Das ist schon ein Unterschied zu dem eher unbewussten Reduzieren der eigenen Persönlichkeit.

Na ja, unbewusstes Reduzieren, gibt es das überhaupt? Ich meine, wenn man z.B. zur Arbeit geht, ist das doch eher ein bewusstes Reduzieren der Persönlichkeit(en). Man nimmt sich zusammen, heisst das dann, glaube ich. :icon_mrgreen:

Das sehe ich überhaupt nicht so. Eher glaube ich, dass es kaum ein bewusstes Reduzieren gibt. Überhaupt ist der Teil des unbewussten Handelns sehr groß, größer als man wohl glaubt. Ich denke nicht, dass wir es bewusst steuern, wenn wir uns z.B. unter Kumpels anders geben als unter Kollegen oder der Freundin gegenüber. Und im Internet dürften die wenigstens ganz bewusst bestimmte Details ihrer Persönlichkeit ausklammern. Sicherlich ist es möglich, dies bewusst zu steuern. Und im Nachhinein kann dies auch durch Reflektion bewusst auffallen. Aber prinzipiell würde ich sagen, dass in der jeweiligen Situation intuitiv und unbewusst gehandelt wird.
Dies ist auch bei Entscheidungssituationen eher anzunehmen. Bevor wir etwas bewusst, als durch Verstand, entscheiden (Vor- und Nachteile abwägen usw.), haben wir uns schon intuitiv, mit dem Bauch, entschieden. Nachdenken kostet viel Zeit. Intuitives Handeln dagegen nicht. Das greift auf unseren Erfahrungsschatz zurück und zwar schneller als wir uns das in der jeweiligen Situation bewusst machen können.

Zitat von: Grusler am 24 Februar 2009, 17:16:39
Zitat von: pm.diebelshausen am 24 Februar 2009, 13:23:29
Um noch mal klar auf Bretzels Ausgangsfrage zu antworten: das Internet zeigt unseren Internetcharakter, der sich zum Teil mit unseren anderen Charakteren überschneidet...
....Von Wahrheit würde ich da nicht sprechen, zumal eine Person meiner Meinung nach ohnehin nicht auf einen Charakter festzunageln ist. Wir sind je nach Kontext und Zeitpunkt im Leben innerhalb unserer Haut bereits verschieden. Ich bin einem Freund gegenüber ein Anderer als in der Gruppe meiner Arbeitskollegen oder während einer Beerdigung. Wir sind Rudelchamäleons und ändern uns immer wieder. Was ist da der Kern, die Wahrheit, das, was die Person ausmacht?

Der Kern müsste eigentlich das "Ich" sein und nicht die tausend verschiedenen "Personen", die einem beiwohnen. Hört man auf sein Herz, hört man auf den Kern, das was bei einem schon immer so war und nicht zu ändern ist. Das müsste die Wahrheit darstellen. Der ganze Rest, der einem anerzogen und antrainiert wurde, den man teils selbst erschaffen hat, der mehr schlecht als recht ist, das ist doch eine Art Lüge und wenn man ehrlich ist, ist auch immer nur "Das" dafür verantwortlich, wenn es mal wieder bergab geht.
Ich unterteile es in das "Ich" (der Kern) und das Ego.

Ich stimme da eher diebelshausen zu. Ich denke schon, dass unser Charakter ein Mix aus unseren Erfahrungen, unserer Erziehung, Kultur und einem Bruchteil aus den Genen besteht. Außerdem wächst der Charakter mit der Zeit, Veränderungen sind also durchaus möglich. Ich sehe da also nicht den "Kern", auf den sich ein Mensch runterreduzieren lässt und der sozusagen das "Wahre" ist. Zumal - wenn es diesen Kern gebe, wäre auch dieser erst durch unsere Erfahrung und durch das Leben gewachsen. Damit ist es also fraglich, inwiefern es sich um eine Lüge handelt, wenn sich der Mensch auf sein Erfahrungswissen bezieht und auf seine Erziehung.

@diebelshausen: Sicherlich sind die Emoticons dazu da, genau diesen Teil der Kommunikation zu ersetzen, der im Internet fehlt und zwar merklich fehlt. Allerdings empfinde ich es immer so, dass ich sie nicht besonders ausreichend sind.
Kommunikation ist ja sowieso eine recht heikle Sache, die von Interpretation abhängig ist. Man kennt ja das Modell mit den vier Seiten der Kommunikation (z.B. Appellcharakter). Wenn also schon die Kommunikation im Alltagsleben, wo einem alle Mittel wie Tonlage, Mimik, Gestik usw. zur Verfügung stehen, trotzdem missverständlich abläuft, ist es ja kein Wunder, dass dies im Internet noch schlimmer ist.
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Grusler

@Seemops+psychopaul:

Ja, da habt ihr natürlich schon recht.:icon_smile:

Das Ego ist doch aber das, was einem ständig einredet vor anderen und sogar vor einem selbst immer gut (was auch immer das bedeutet) dastehen zu müssen. Daraus entwickeln sich im schlimmsten Fall doch auch die Komplexe und andere Dinge, die dem Leben an sich dann im Wege stehen und dann fühlt man sich scheisse.
Bei Beerdigungen fängt es ja schon an, psychopaul schreibt, man wird nicht gezwungen betroffen zu sein und dass es Höflichkeitsformen gibt, die man dann einhält, obwohl man evtl. nicht traurig ist. Warum macht man sowas? Entweder man ist traurig, dann geht man hin, oder man ist nicht traurig und man erspart sich das. Nein, es wird überlegt doch hinzugehen, obwohl man nicht traurig ist, um z.B. vor anderen (der Gesellschaft) einen guten Eindruck zu machen, weil es einem ja erzählt wurde (teils Erziehung?), dass es unhöflich ist, wenn man nicht hingeht. Und schon ist man unehrlich und eigentlich nicht man selbst.

Daher rede ich von dem Ich (was nur das will, was man eben selbst will) und dem Ego (was das will, was einem erzählt wurde, was angeblich richtig ist). Und somit überlege ich, ob das Ego nicht eine anerzogene Lüge ist, die fast nichts mit einem selbst gemein hat.
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pm.diebelshausen

24 Februar 2009, 18:38:01 #10 Letzte Bearbeitung: 24 Februar 2009, 21:05:24 von pm.diebelshausen
Die vier Seiten einer Nachricht sind ein interessantes Modell. Aber wie alle Modelle eben nicht die Wirklichkeit. Ich finde, die Stärke dieser Theorie liegt darin, uns Denkansätze zu geben, die uns sonst entgangen wären.

Und bezüglich des Ichs: Der Hirnforscher Gerhard Roth hat sehr spannende Theorien untermauert, nach denen das Ich und unser Selbstbewußtsein (im Sinne von "sich als Individuum seiner Selbst bewußt sein") eine vom Gehirn inszenierte Blase ist, die z.B. nicht selber Entscheidungen trifft. Bereits Versuche in den 70er (Lebet, hieß der Mann, wenn ich mich richtig erinnere), zeigten, dass das Fällen einer Entscheidung und ihre Bewußtwerdung in dem, was eine Person "Ich" nennt ("Ich entscheide mich für das und das.") von einer signifikanten Zeitspanne getrennt ist: Ich bin also der letzte, der erfährt, was in seinem Gehirn entschieden wurde. Das erleben wir aber so nicht, sondern wir erfinden sogar Gründe, warum wir uns vermeintlich bewußt für oder gegen etwas entschieden haben: Menschen, denen man unter Hypnose den Auftrag erteilt hatte, nach dem "Erwachen" den Teppich zu betrachten, und die dann tatsächlich auf allen Vieren den Teppich betrachteten, erfanden nach dem Grund ihreds Handelns befragt, Gründe wie "Ich finde dieses Muster höchst interessant". Für Roth haben derlei Erkenntnisse weitreichende Konsequenzen, z.B. im Strafrecht und der Verantwortung, die ein Täter für sein handeln hat. Andere Wissenschaftler meinen, das Ganze habe überhaupt keine Konsequenz, weil es ja immernoch mein Gehirn ist, das da entscheidet, also Ich. Habe mich länger nicht mehr damit beschäftigt, weiß also nicht, wie die Debatte in den letzten sechs, sieben Jahren weitergelaufen ist.

Ich will aber darauf hinweisen und bin nicht unschuldig daran, dass wir uns ein wenig von Bretzelburgers Anliegen entfernen, denn es geht hier nicht um die Struktur des Ichs, sondern um unsere Selbstinszenierung in der Kommunikation. Um über die Struktur des Ichs zu sprechen, brauchen wir das Thema Kommunikation nicht.

Ich finde, das Internet ist ein selbständiges, vollwertiges Medium der Kommunikation. Komunikation hat immer ihre Vor- und Nachteile, Bereiche, die funktionieren und Bereiche, in denen sie scheitert. Was mir übrigens sehr gut gefällt, denn ich habe zwar in diesem Bereich studiert, bin aber eben kein Sprachpurist, ist die Kreativität, mit der die User im Netz Sprache angehen. Seien es die zahlreichen Kürzel (lol und so weiter) oder eine Art nuscheliger aber voll verständlicher Schreibstil - die Menschen haben sich im Netz mehr über den Duden hinweggesetzt als an irgendeinem anderen Ort. I like that! Da erobern sich die Sprechenden die Sprache zurück, die ihnen teilweise von Gelehrten und Dogmatikern gestohlen wurde. Das nur am Rande. Deutet aber vielleicht darauf hin, dass wir im Netz nicht unbedingt mehr wir selbst sind, aber möglicherweise selbständiger.

@Grusler
Bist Du vertraut mit Freuds Kathegorisierungen "Ich", "Es" und "Über-Ich"? Kenne mich selbst da nicht wirklich aus, aber eine davon entspricht doch Deiner Beschreibung der gesellschaftlich anerzogenen Normen (man geht halt zu einer Beerdigung), ich glaube das "Über-Ich".
Es gibt viele, die nicht reden, wenn sie verstummen sollten, und andere, die nicht fragen, wenn sie geantwortet haben.

psychopaul

Zitat von: Grusler am 24 Februar 2009, 18:24:17
Bei Beerdigungen fängt es ja schon an, psychopaul schreibt, man wird nicht gezwungen betroffen zu sein und dass es Höflichkeitsformen gibt, die man dann einhält, obwohl man evtl. nicht traurig ist. Warum macht man sowas? Entweder man ist traurig, dann geht man hin, oder man ist nicht traurig und man erspart sich das. Nein, es wird überlegt doch hinzugehen, obwohl man nicht traurig ist, um z.B. vor anderen (der Gesellschaft) einen guten Eindruck zu machen, weil es einem ja erzählt wurde (teils Erziehung?), dass es unhöflich ist, wenn man nicht hingeht.Und schon ist man unehrlich und eigentlich nicht man selbst.

Naja, ich meinte ja nicht, dass man unehrlich ist, weil man hingeht, obwohl man nicht mag. Dann wäre nur jemand wirklich er selbst, wenn er nie im Leben zum Zahnarzt geht.  :king:

Es ging mir eher darum, wie man sich dann in so einer Situation verhält. Heuchle ich Traurigkeit vor oder bleibe ich relativ "neutral", eben genauso wie ich es fühle.
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Grusler

Zitat von: pm.diebelshausen am 24 Februar 2009, 18:38:01
@Grusler
Bist Du vertraut mit Freuds Kathegorisierungen "Ich", "Es" und "Über-Ich"? Kenne mich selbst da nicht wirklich aus, aber eine davon entspricht doch Deiner Beschreibung der gesellschaftlich anerzogenen Normen (man geht halt zu einer Beerdigung), ich glaube das "Über-Ich".

Nein, was ich schrieb, habe ich mir u.a. durch Diskussionen mit Freunden selbst "zusammengereimt" :icon_mrgreen:, aber davon habe ich gehört, das muss ich mir unbedingt mal durchlesen. Denn das mit dem "Über-Ich" klingt in der Tat plausibel. :respekt:

Aber stimmt schon, eigentlich hat das Thema hier nichts zu suchen, da bin ich? :king: wieder etwas vom Wege abgekommen...
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vegetarian_cannibal

24 Februar 2009, 19:55:38 #13 Letzte Bearbeitung: 24 Februar 2009, 20:06:16 von vegetarian_cannibal
Zitat von: Bretzelburger am 23 Februar 2009, 11:54:00
Durch diverse Diskussionen zuletzt sowieso schon in diese Richtung sensibilisiert, bekam ich heute eine interessante Seite in der Süddeutschen zu lesen, die sich mit dem Thema beschäftigt.

In diesem Fall ging es um weibliche Verhaltensmuster, die sich aber problemlos generalistisch anwenden lassen. Während wir im Realleben zurückhaltend, vielleicht sogar schüchtern verklemmt sind, lassen wir im Internet die Sau raus. Die Gründe, warum Jemand im Realleben vielleicht gemobbt wird (was grundsätzlich eine Schweinerei ist), lassen sich im Internet umkehren. Hier können Machtverhältnisse künstlich geschaffen werden, indem man eigene Regeln aufstellt und sich zum Herrn über Andere aufschwingt. Das erfordert aber immerhin Intelligenz und Begeisterung, denn ohne das Schaffen einer wie auch immer gearteten Community, bleibt man allein mit seinen Regeln.

Was aber keine Intelligenz (und schon gar keinen Mut) erfordert, ist das Bashing anderer Menschen. Versehen mit einem Pseudonym und unter Unterdrückung der meisten relevanten Daten, lässt es sich bequem austeilen. Wenn mir Jemand im Internet besonders selbstbewusst auffällt, schaue ich immer nach seinen privaten Angaben und muss fast immer feststellen, dass dort Fantasieorte, Altersangaben jenseits der Rentengrenze usw. stehen. Was vielleicht vordergründig lustig sein soll und bei Nachfrage gern mit einer weit verbreiteten Paranoia begründet wird, hat für mich immer den faden Beigeschmack der Feigheit. In der Süddeutschen wird das als Schulhofmentalität bezeichnet, die sich dadurch definiert, dass man Andere ausgrenzt und beurteilt, um sich selbst damit zu erhöhen.

Von mir selbst kann ich behaupten, dass sich mein Verhalten hier nicht von meinem realen Verhalten unterscheidet. Auch die Menschen, die ich bisher persönlich kennenlernen durfte, waren grösstenteils so, wie ich sie im Internet kennengelernt hatte. Im Gegenteil erwies sich das als durchaus positiv, denn z.B. "nonames" ironischer Stil, weswegen ich mich vor knapp 3 Jahren im WM 2006 Thread mit ihm gestritten hatte, bekommt in der Realität einen ganz anderen Hintergrund. Aber die meisten User (meine Frage bezieht sich auf allgemeine Erfahrungen im Internet) lernt man nicht kennen und man bekommt doch den Eindruck, dass sie sich gerne hinter dem Computer verschanzen.

Wie seht ihr das persönlich, wenn ihr euch selbstkritisch beurteilt, und habt ihr ähnliche Erfahrungen gemacht ?

Ich steh dazu, wer ich bin. Ich bashe niemanden. Ich finde sowas ist lächerlich, hat Kindergartenniveau. In einem Jugend-Forum, in dem sich lediglich die U-18-Riege tummelt, muß man mit sowas rechnen-daß man aber hier "du bist dick" bzw. "du bist doof" zu hören bekommt, ist einfach nur peinlich. Vor allem das einschießen auf einen bestimmten User und diesen dann zu bashen, ist definitiv Schulhofmentalität. Und das persönlich werden, wenn jemand eine andere Meinung hat, statt diese Meinung fundiert zu widerlegen, kommt irgendein Spruch gegen die (vermeintliche) Persönlichkeit des Users. Allerdings kann eine einzelne Meinung nie die Persönlichkeit des Autors wiedergeben, ich bin da vorsichtig.

Aber auch ich mußte da erst lernen-habe mich noch vor kurzem viel zu schnell aufgeregt. Wer basht, stellt nicht den gebashten bloß, sondern sich selbst. Ist doch logisch. Allerdings ist nichtmal derjenige so peinlich, der damit anfängt, einen User zu bashen, sondern vor allem der Mob, der ihm dann folgt, der deutlich zeigt, daß man gerne anderen das denken überlässt, nämlich denen, die am lautesten plärren können. Nur meine Meinung.

Ich meine hier Niemand im besonderen; ich fände es allerdings einfach schön, wenn in diesem Erwachsenen-Forum solche Kinderspiele unterbleiben würden. Ich bin kein Mod, ich kann es bei Gott keinem verbieten! Es ist bloß ein Wunsch von mir.

O.k., am Schluß (ist auch wichtig für mich) noch etwas Selbstkritik: Als ich arbeitslos war, habe ich in einem Browserspiel (Travian) andere gebasht. In diesem Spiel ist bashen erlaubt. Ich hab die Dörfer aller Noobs kurz und kleingeschlagen. Dies hatte im Spiel keinerlei Vorteil für mich! Da es NICHT das Ziel des Spiels ist, die Dörfer der anderen zu zerstören. Ich hab das nur gemacht, weil ich irgendwie frustriert war. Ne peinliche Sache, wie ich finde, aber gottseidank liegt dies nun schon einige Jahre zurück. Heute würde ich nicht mehr auf solche Ideen kommen...

Ach ja, nochwas zum bashen: Für mich gibt es einen klaren Unterschied zwischen Kritik (bsp: Du hast grade geschrieben, daß Film XY Äußerung XY enthält, was nicht stimmt, das war nicht überlegt von dir...) und bashen (bsp.: Du hast grade geschrieben, daß Film XY die Äußerung XY enthält, daher bist du doof!"). Ersteres ist bei mir ausdrücklich erwünscht. Zweiteres halte ich für albern.

pm.diebelshausen

An dieser Stelle mal: ich möchte nicht in der Haut der Mods stecken! Abgesehen davon, dass das auch unappetitlich wäre: man muss ständig abwägen, wie weit man seine Kontrollmöglichkeiten nutzt, und wieweit die eigene "Macht" gehen darf. Ich persönlich hätte den einen oder anderen User schon gerne rausgeworfen - das ist aber persönliche Animosität und sollte nicht die Entscheidung für eine Community darstellen. Es gibt gute Gründe dafür, warum in einer Gesellschaft die Gesetze und Verurteilungen nicht von Betroffenen Opfern und Angehörigen erlassen werden.

Das Schwierige mit dem bashen ist, dass man stets versucht ist, richterlich die Schuldfrage zu klären, meist zu eigenen Gunsten. Henne und Ei, sage ich da mal. Mir kribbelts ja auch in den Fingern über der Tastatur, wenn ich mal wieder was Seltendämliches oder eben auch Unverschämtes lese. Aber dann nicht zurückzuschlagen oder im Affekt dazwischenzugehen ist immer besser. Sonst nimmt man auf selbem Nieau am selben Spiel teil und nicht die Art zu spielen ist das blöde, sondern das Spiel! Man sollte stets bemüht sein, den kontinuierlichen roten Faden des Hasses in der Welt zu durchtrennen, auch wenn man dabei verliert. Auf anderer Ebene ist der Gewinn unvergleichlich größer. Huch, ich bin ja ein Buddhist.  :icon_eek:

P.S.: Ich bin dick und doof.
Es gibt viele, die nicht reden, wenn sie verstummen sollten, und andere, die nicht fragen, wenn sie geantwortet haben.

Soonor

Ich hab bis jetzt nur den Eingangsbeitrag gelesen, aber den Rest hol ich noch nach.
Eventuell auftretende Wiederholungen von bereits Gesagtem möge man mir verzeihen.

Im Internet vertrete ich dieselbe Meinung wie privat, wobei ich im Alltag nicht immer meinen Mund aufmache.
Das hat mit den Sanktionsmöglichkeiten von höher gestellten Menschen zu tun. Zum Beispiel halte ich mich an der Uni bei Diskussionen mittlerweile zurück. Was hab ich davon, kontroverse Meinungen zu äußern und damit zu riskieren, die Aufmerksamkeit andersdenkender Professoren oder Seminarleiter auf mich zu ziehen? Vielleicht bewerten die dann deshalb meine Hausarbeiten oder mündlichen Prüfungen schlechter. Muss ich nicht haben, zumal es den meisten meiner Komilitonen nur darum zu gehen scheint, sich bei emotional aufgeladenen Themen als moralisch ehrenvolle Person zu präsentieren. "Seht her, ich bin total tolerant, akzeptiere alles und jeden. Wenn ein Mensch schlecht handelt, ist die Gesellschaft schuld. Wir müssen Benachteiligten helfen, denn die können nichts für ihre Lage." Wenn ich solche Sätze höre, muss ich mit einem inneren Brechreiz kämpfen, und wenn ich dann noch sachlich meine Meinung sagen würde, käme nur :icon_confused: oder :icon_eek: oder :doof: oder :icon_mad:. Außer ein paar amüsanten Schlagabtauschen kommt bestenfalls nichts dabei rum. Schlimmstenfalls haben mich einflussreiche Uni-Leute ab sofort auf dem Kieker. Fazit: lohnt nicht, also halte ich mein Maul. Im Arbeitsleben ist das ähnlich, indem man z.B. darauf verzichtet, dem Chef seine Meinung zu geigen. Im Internet wird man höchstens aus einem Forum gekickt oder einzelne Kommentare gelöscht. Damit kann man schon viel besser leben und demzufolge etwas mehr auf den Putz hauen.

Zum Thema "Veröffentlichung von Privatdaten": damit gehe ich äußerst sparsam um weil ich im Internet schon viel Mist mitbekommen habe. Das ging von Spam-Mails über Drohanrufe bishin zu Hausbesuchen. Man sollte also aufpassen was man auf seiner Homepage, bei Myspace oder im StudiVZ von sich preisgibt. Ich habe mal einen Fall verfolgt, wo paar Leute auch beim Arbeitgeber angeschwärzt wurden, so nach dem Motto "Guck mal was Dein Angestellter in seiner Freizeit macht". Ein derartiger Eingriff ins Privatleben ist schon ziemlich heftig wie ich finde, zumal die Anprangerer anonym blieben und die Betroffenen sich kaum dagegen wehren konnten.

Zum "Mobbing": da müsste man sich erst mal auf eine gemeinsame Definition einigen, und dann müsste man ein gewisses Maß an Selbstkritik bei allen Diskutanten voraussetzen. Ich hab es schon mehrmals erlebt, dass die schlimmsten Austeiler sofort losplärren wenn jemand auf Konfrontationskurs geht statt klein beizugeben. Und das Schlimme ist, dass die Austeiler gar nicht merken dass sie selbst Mobber sind, sich aber beim kleinsten Anflug von Gegenwehr allen Ernstes über Mobbing beschweren. Um solchen Leuten oder anderen Spinnern den Wind aus den Segeln zu nehmen bzw. keine Angriffsfläche zu bieten, verzichte ich auf die Angabe bestimmter persönlicher Informationen. Wenn mir trotzdem jemand dumm kommt (aufgrund meiner Ansichten), weiß ich mich schon zu wehren.

pm.diebelshausen

Ich halte Soonors Beitrag für sehr ehrlich. Aber nicht gerade beruhigend. Was studierst Du denn, Soonor, oder ist das auch lieber geheim?

Deine Uni-Angst vor Repressalien aufgrund unkonventioneller Meinung kann ich nämlich als ehemaliger Langzeitstudi (Germanistik, Anglistik, Neuere dt. literatur, Philosophie) in Köln und Berlin (HU & FU) nicht teilen. Da waren Wissenschaftler am Start, die in unserer Ausbildung mehr Wert auf das Wie, als auf das Was gelegt haben. Mit anderen Worten: solange eine Meinung gut fundiert und argumentativ gut strukturiert und am Besten auch noch lesbar war (im Falle von HA und schriftlichen Prüfungen), stand einer guten Bewertung überhaupt Nichts im Wege. Und die anderen Studierenden waren zu sehr mit sich selbst und ihrem Angesicht beschäftigt, das möglichst wissend aussehen sollte, als dass sie sich auch noch mit Sanktionsintrigen gegen andere beschäftigt hätten. Und ich gehöre längst nicht zu den konventionellen oder gar regressiven Leuten - das kann ich hier nur behaupten, Ihr kennt  mich nicht, aber ich bin frech und denke gerne gegen den Strich.

Auch den Stalking-Horror durch Internet-Infos habe ich in keiner Weise bisher kennengelernt. Kann ich nichts zu sagen.

Hast Du schonmal daran gedacht, bei so viel Widerspruch, wie Du ihn anscheinend überall bezüglich Deiner Meinungen bekommst, Deine Meinungen mal zu überdenken? Ist es naheliegender, die Mitmenschen selbser für blöd oder gemein zu halten? Vielleicht - wohl gemerkt: nur vielleicht - muss sich ncht die Gesellschaft ändern, sondern Du. Dein Selbstbewußtsein scheint ja jedenfalls teilweise so groß und stark zu sein, dass Dir nicht mal probeweise - und eben wenn auch nur als Gedankenspiel gegen den eigenen Strich gedacht - in den Sinn kommt, dass die Toleranz vieler Leute Schuld daran ist, dass es Dich so wie Du bist überhaupt noch gibt. Nicht falsch verstehen: ich habe keine Ahnung, wie Du bist, will es auch nicht unbedingt wissen, ich zehre nur von dem, was Du hier mitteilst.

Ansonsten scheint mir, Du bestätigst, was ich bezüglich Freiheit vs. Sicherheit gesagt habe: wo Repressalien drohen, klein beigeben (Sicherheit) und an einem Ort wie dem Intrenet "auf den Putz hauen" (Freiheit).
Es gibt viele, die nicht reden, wenn sie verstummen sollten, und andere, die nicht fragen, wenn sie geantwortet haben.

Soonor

Zitat von: pm.diebelshausen am 25 Februar 2009, 18:47:03
Ich halte Soonors Beitrag für sehr ehrlich. Aber nicht gerade beruhigend. Was studierst Du denn, Soonor, oder ist das auch lieber geheim?

Yo, besser ist das. :icon_mrgreen:
Nimms nicht persönlich, aber solche Infos rück ich nur raus wenn ich jemanden näher zu kennen glaube, z.B. durch längeren und intimen PM-Kontakt.

ZitatDeine Uni-Angst vor Repressalien aufgrund unkonventioneller Meinung kann ich nämlich als ehemaliger Langzeitstudi (Germanistik, Anglistik, Neuere dt. literatur, Philosophie) in Köln und Berlin (HU & FU) nicht teilen. Da waren Wissenschaftler am Start, die in unserer Ausbildung mehr Wert auf das Wie, als auf das Was gelegt haben. Mit anderen Worten: solange eine Meinung gut fundiert und argumentativ gut strukturiert und am Besten auch noch lesbar war (im Falle von HA und schriftlichen Prüfungen), stand einer guten Bewertung überhaupt Nichts im Wege. Und die anderen Studierenden waren zu sehr mit sich selbst und ihrem Angesicht beschäftigt, das möglichst wissend aussehen sollte, als dass sie sich auch noch mit Sanktionsintrigen gegen andere beschäftigt hätten. Und ich gehöre längst nicht zu den konventionellen oder gar regressiven Leuten - das kann ich hier nur behaupten, Ihr kennt  mich nicht, aber ich bin frech und denke gerne gegen den Strich.

Auch hier nichts gegen Dich, aber ich kann mir in Bezug auf Deine Fächer spontan keine Themen vorstellen, wo es hoch hergehen könnte. Gegenbeispiel: man studiert Geschichte und Politik. Da wird man quasi gezwungen, Stellung zu beziehen, zumindest in den Hausarbeiten. Und ja, wenn man die eigene Meinung ordentlich begründet, geht das in der Regel klar. Nicht selten kommt es aber auch in Seminaren zu gesellschaftsrelevanten Diskussionen. Und jetzt vertritt dort mal eine Meinung, die von der Masse abweicht, egal ob rechts/links (Politik) oder altmodisch/neumodisch (Geschichte). Da macht man sich schnell zum Gespött (find ich eher untragisch) oder zum Querdenker (zumindest in Bezug auf ,,Höhergestellte" problematisch).

ZitatHast Du schonmal daran gedacht, bei so viel Widerspruch, wie Du ihn anscheinend überall bezüglich Deiner Meinungen bekommst, Deine Meinungen mal zu überdenken? Ist es naheliegender, die Mitmenschen selbser für blöd oder gemein zu halten? Vielleicht - wohl gemerkt: nur vielleicht - muss sich ncht die Gesellschaft ändern, sondern Du. Dein Selbstbewußtsein scheint ja jedenfalls teilweise so groß und stark zu sein, dass Dir nicht mal probeweise - und eben wenn auch nur als Gedankenspiel gegen den eigenen Strich gedacht - in den Sinn kommt, dass die Toleranz vieler Leute Schuld daran ist, dass es Dich so wie Du bist überhaupt noch gibt. Nicht falsch verstehen: ich habe keine Ahnung, wie Du bist, will es auch nicht unbedingt wissen, ich zehre nur von dem, was Du hier mitteilst.

Geschenkt.
Das alles hab ich schon zig Mal gehört.
Und abgesehen davon dass ich nicht so oft auf Widerspruch stoße, wie es hier vielleicht den Anschein hat, bin ich froh sagen zu können dass ich mich nicht verbiege. Mit Sicherheit vertrete ich zu diversen Themen eine Minderheit, aber das ist doch nicht schlimm. Die Grünen als Partei sind z.B. für Umweltschutz (gute Sache) aber politisch trotzdem nicht mehrheitsfähig. Klar was ich meine? Und nur weil 60, 70 oder 80% meiner Mitmenschen hier und da anderer Meinung sind als ich, heißt dass noch lange nicht dass ich ein Spinner bin. Vielleicht bin ich ,,normal" und die Mehrheit "verrückt". Wer kann und will das schon beurteilen? Ich ändere mich nur dann wenn ich das für sinnvoll halte. In diesem Fall bin ich davon überzeugt, während ich sonst das Gefühl habe, mich selbst zu belügen. Und ja: vielleicht bin ich ,,krank", ,,gestört" – was auch immer – aber solange ich stolz in den Spiegel blicken kann, ist mir das herzlich egal.

Dein Einwand hinsichtlich der Toleranz meiner Mitmenschen ist echt interessant. Und ja, es stimmt dass ich mich in repressiven System nicht so frei äußern könnte. Deshalb bin ich auch verdammt froh, in einer westlich (aufklärerisch) geprägten Gesellschaft zu leben und verurteile Lebensentwürfe (von Ausländern oder politisch andersdenkenden Inländern), die mir diese Freiheit streitig machen wollen.

ZitatAnsonsten scheint mir, Du bestätigst, was ich bezüglich Freiheit vs. Sicherheit gesagt habe: wo Repressalien drohen, klein beigeben (Sicherheit) und an einem Ort wie dem Intrenet "auf den Putz hauen" (Freiheit).

Was heißt ,,klein beigeben"? – Ich nenne das Opportunismus oder (geklauter Begriff) ,,moralische Flexibiltät"! :icon_cool:
Unter anderen Umständen würde ich meine Meinung ohne Rücksicht auf Verluste vertreten, z.B. wenn sie mehrheitsfähig wäre oder ich einflussreiche Freunde in der Politik hätte.
Zitat von Van Damme aus Cyborg: ,,Ich hab diese Welt nicht gemacht, ich leb nur darin (Zusatz von mir) und versuche hier so gut wie möglich klarzukommen".

pm.diebelshausen

26 Februar 2009, 00:10:41 #18 Letzte Bearbeitung: 26 Februar 2009, 00:29:53 von pm.diebelshausen
Wir machen die Welt, jeden Tag auf's Neue.

Dass Du Dir nicht vorstellen kannst, dass es in der Philosophie hoch hergeht, finde ich merkwürdig. Ich habe aber jetzt keine Lust, zu erklären, womit sich Philosophen beschäftigen. Darüber hinaus beschäftigen sich ebenso die Literaten als auch ihre Exegeten mit gleichermaßen brisanten Themen.

Zitat von: Soonor am 25 Februar 2009, 14:25:11
Fazit: lohnt nicht, also halte ich mein Maul.
Das meine ich mit "klein beigeben". Dachte das wär klar. Ist jedenfalls das Gegenteil von "auf den Putz hauen".
Es gibt viele, die nicht reden, wenn sie verstummen sollten, und andere, die nicht fragen, wenn sie geantwortet haben.

McMurphy

Zitat von: Soonor am 25 Februar 2009, 22:45:24Unter anderen Umständen würde ich meine Meinung ohne Rücksicht auf Verluste vertreten, z.B. wenn sie mehrheitsfähig wäre oder ich einflussreiche Freunde in der Politik hätte.

Wo liegt der Sinn, seine Meinung ohne Rücksicht auf Verluste nur dann zu vertreten, wenn man keine Verluste befürchten muss?


Edit: Oder sollte es vielleicht um die Verluste der anderen gehen?
- "I see your front tyre's going a bit flat on you there, Burt."
- "Oh yeah, well the good news is, it's only flat on the bottom."
(aus "The World's Fastest Indian")

Soonor

Zitat von: pm.diebelshausen am 26 Februar 2009, 00:10:41
Zitat von: Soonor am 25 Februar 2009, 14:25:11
Fazit: lohnt nicht, also halte ich mein Maul.
Das meine ich mit "klein beigeben". Dachte das wär klar. Ist jedenfalls das Gegenteil von "auf den Putz hauen".

Ja, ist klar, und situationsabhängig, siehe oben.

Zitat von: McMurphy am 26 Februar 2009, 00:27:31
Zitat von: Soonor am 25 Februar 2009, 22:45:24Unter anderen Umständen würde ich meine Meinung ohne Rücksicht auf Verluste vertreten, z.B. wenn sie mehrheitsfähig wäre oder ich einflussreiche Freunde in der Politik hätte.

Wo liegt der Sinn, seine Meinung ohne Rücksicht auf Verluste nur dann zu vertreten, wenn man keine Verluste befürchten muss?

Im psychologischen Lust/Unlust-Prinzip: was mir schadet, ist schlecht. Und was mir gut tut, ist erstrebenswert.

ZitatEdit: Oder sollte es vielleicht um die Verluste der anderen gehen?

Also wenn Du so fragst, ist da sicher was dran. Man hält sich meinungstechnisch zurück wenn man was zu verlieren hat = Gewinn der Anderen.
Und wenn man bei der Äußerung eigener Ansichten nichts zu befürchten hat, kann man offensiver sein = Verlust für seine Mitmenschen.

Du hast 2 Fragen gestellt, aber letztendlich sind das nur die 2 Seiten derselben Medaille:
Wer gewinnt, sorgt dafür dass ein Anderer verliert, und wer verliert, beschert irgendjemandem einen Gewinn.

Hedning

Ein Vorzug des Internets ist sicher, dass man nicht seiner physischen Identität auftreten muss. Wenn ich im "RL" Leute treffe, achten die auf meine Figur, meine Kleidung, meine Sprechweise etc. pp. - Merkmale, die ich selbst nicht für so entscheidend für die Beurteilung einer Persönlichkeit halte, wie es in unserer gegenwärtigen Gesellschaft leider üblich ist. Wenn ich hier im Forum auftrete, kann ich dies unter dem angenehmen Äußeren von Meiko Kaji oder momentan Barbara Magnolfi tun - d.h. ich kann meine Schönheitsideale für mich sprechen lassen - und kann ohne das für mich ansonsten typische vergleichsweise langsame bis schwerfällige Sprechen (das mir ab und zu vorgehalten wird) alles so "gediegen" formulieren, wie ich will. Das heißt nicht, dass ich mich in meiner physischen Ganzheit nicht für gesellschaftsfähig halte, aber das Wahrnehmen des Aussehens versperrt manchmal eher den Zugang zu jemandes Identität, als dass es ihn ermöglichen würde.

Das nach freiem Ermessen gestaltete virtuelle Auftreten mögen manche Leute (vor allem diejenigen, denen es an der nötigen Fantasie fehlt) als Scheinidentität oder Lug und Trug verstehen, aber für mich ist das eine Form von Freiheit.

pm.diebelshausen

Hedning brachte mich auf einen Gendanken. Eigentlich zwei, aber der erste ist nicht wichtig:

1) Stoiber schreibt keine "äh"s
2) Es spielt eine große Rolle, welches Selbstbild man hat und vor allem - wie realistisch es ist.

Was genau dabei "realistisch" heißt, weiß ich nicht. Vielleicht einfach, inwieweit sich das Bild, das ich von mir habe, mit demjenigen deckt, das andere von mir haben. Also die Schnittmenge von Selbstwahrnehmung und Fremdwahrnehmung.

Wenn sich jemand unheimlich witzig findet, aber der einzige ist, der über seine Witze lacht - wie witzig ist er dann? Manche Menschen bemerken nicht wirklich, woraus ihre Handlungen bestehen, es kann gut sein, dass viele Handlungen (und das Kommunizieren auch im Netz ist eine Handlung), nicht mit ihrer inneren Absicht übereinstimmen. Die Handlungen sind aber das einzig Relevante, denn was ich in mir zurücbehalte wird nicht real: es nimmt keinen Einfluss auf meine Umwelt und die Personen darin. Ideen, Absichten, Gefühle, Meinungen etc. und auch das Selbstbild sind völlig irrelevant, solange keine Veräußerung stattfindet: durch Handlungen.
Es gibt viele, die nicht reden, wenn sie verstummen sollten, und andere, die nicht fragen, wenn sie geantwortet haben.

McMurphy

Zitat von: Soonor am 26 Februar 2009, 01:18:05
Zitat von: McMurphy am 26 Februar 2009, 00:27:31
Wo liegt der Sinn, seine Meinung ohne Rücksicht auf Verluste nur dann zu vertreten, wenn man keine Verluste befürchten muss?

Im psychologischen Lust/Unlust-Prinzip: was mir schadet, ist schlecht. Und was mir gut tut, ist erstrebenswert.

Das würde bedeuten, nur die Wiederholung der Mehrheitsmeinung führt zu Wohlbefinden, mithin also eine völlige Unterordnung der eigenen Person.

Der Inhalt der eigenen Meinung kann nach Deinen Äußerungen nur nebensächlich sein. Denn Du ziehst Dein Wohlbefinden offenbar nicht daraus, eine eigene Meinung zu haben und äußern zu können, sondern aus der Reaktion Deiner Umwelt auf diese Äußerung. Du schreibst, daß Du Dich in einem repressiven System nicht so frei äußern könntest, verzichtest aber gleichzeitig auf die Meinungsäußerung, wenn Du Dich dabei nicht hinter der Mehrheit oder einflußreichen Freunden verstecken kannst.

Bezogen auf die Verluste der anderen meinte ich: Wenn man sich selbst unterdrückt, weil man sich mit seiner Meinung in der Minderheit sieht, wie tolerant kann man dann anderen gegenüber sein, wenn man selbst die Mehrheitsmeinung vertritt?
- "I see your front tyre's going a bit flat on you there, Burt."
- "Oh yeah, well the good news is, it's only flat on the bottom."
(aus "The World's Fastest Indian")

Conferencier

Zitat von: Hedning am 26 Februar 2009, 13:19:50
Ein Vorzug des Internets ist sicher, dass man nicht seiner physischen Identität auftreten muss. Wenn ich im "RL" Leute treffe, achten die auf meine Figur, meine Kleidung, meine Sprechweise etc. pp. - Merkmale, die ich selbst nicht für so entscheidend für die Beurteilung einer Persönlichkeit halte, wie es in unserer gegenwärtigen Gesellschaft leider üblich ist. Wenn ich hier im Forum auftrete, kann ich dies unter dem angenehmen Äußeren von Meiko Kaji oder momentan Barbara Magnolfi tun - d.h. ich kann meine Schönheitsideale für mich sprechen lassen - und kann ohne das für mich ansonsten typische vergleichsweise langsame bis schwerfällige Sprechen (das mir ab und zu vorgehalten wird) alles so "gediegen" formulieren, wie ich will. Das heißt nicht, dass ich mich in meiner physischen Ganzheit nicht für gesellschaftsfähig halte, aber das Wahrnehmen des Aussehens versperrt manchmal eher den Zugang zu jemandes Identität, als dass es ihn ermöglich würde.

Das nach freiem Ermessen gestaltete virtuelle Auftreten mögen manche Leute (vor allem diejenigen, denen es an der nötigen Fantasie fehlt) als Scheinidentität oder Lug und Trug verstehen, aber für mich ist das eine Form von Freiheit.

So ähnlich geht es mir auch. Im Internet kann man - wenn man denn will - sich viel mehr Zeit nehmen und seine Worte mit Bedacht wählen. Im "RL" platzt es bei mir manchmal einfach heraus und dann denke ich selber was das jetzt für ein Quark war. Oder es fallen mir erst später bessere Argumente ein. Da fühle ich mich "hier" schon wesentlich sicherer.

Ich versuche hier auch so zu sein, wie ich sonst auch bin. Da ich aber oft eine feste Meinung habe, von der ich mich kaum abbringen lasse und das auch deutlich zum Ausdruck bringe, fühlen sich manche Leute hin und wieder auf die Füße getreten. Aber so ist das nun mal.



Sich im Internet mit Namen fremder Leute zu bewegen finde ich äußerst unangebracht. Egal was nun die Gründe sein mögen - Bewunderung oder sonstwas -, auch wenn man nicht den Anspruch erheben möchte sich als diese Person auszugeben. Man kann auch auf anderen Wegen seine Zuneigung ausdrücken (z.B. in der Signatur) ohne diese "falsche Identität". Ich würde das sogar mit dem Diebstahl geistigen Eigentums vergleichen auch wenn das manchen Leuten zu weit geht. So sehe ich das jedenfalls.

Soonor

Zitat von: McMurphy am 26 Februar 2009, 14:32:00
Zitat von: Soonor am 26 Februar 2009, 01:18:05
Zitat von: McMurphy am 26 Februar 2009, 00:27:31
Wo liegt der Sinn, seine Meinung ohne Rücksicht auf Verluste nur dann zu vertreten, wenn man keine Verluste befürchten muss?

Im psychologischen Lust/Unlust-Prinzip: was mir schadet, ist schlecht. Und was mir gut tut, ist erstrebenswert.

Das würde bedeuten, nur die Wiederholung der Mehrheitsmeinung führt zu Wohlbefinden, mithin also eine völlige Unterordnung der eigenen Person.

Nein, denn es kommt darauf, wo man seine Meinung äußert.
An der Uni oder im Arbeitsleben könnte eine Abweichung von der Mehrheit negative Konsequenzen für mich haben, also schweige ich.
Im Freundeskreis kann ich auch eine Minderheitenmeinung vertreten, ohne dafür sanktioniert zu werden.
Das Internet ist ein Zwischending: man kann zwar durch Ausschluss oder Zensur bestraft werden, aber da mir das relativ egal ist, sag ich trotzdem was ich denke.

ZitatDer Inhalt der eigenen Meinung kann nach Deinen Äußerungen nur nebensächlich sein. Denn Du ziehst Dein Wohlbefinden offenbar nicht daraus, eine eigene Meinung zu haben und äußern zu können, sondern aus der Reaktion Deiner Umwelt auf diese Äußerung. Du schreibst, daß Du Dich in einem repressiven System nicht so frei äußern könntest, verzichtest aber gleichzeitig auf die Meinungsäußerung, wenn Du Dich dabei nicht hinter der Mehrheit oder einflußreichen Freunden verstecken kannst.

Wenn wir in einer wirklich toleranten Gesellschaft leben würden, könnten auch Abweichler vom Mainstream ihre Meinung äußern, ohne dafür angemacht zu werden.
Eine eigene Meinung zu haben, ist grundsätzlich sinnvoll, egal ob man diese äußern darf oder nicht. Man braucht sie nämlich zur Orientierung im Alltag.
Sicher, man könnte immer tun was die Mehrheit macht und damit relativ gut fahren, aber das führt garantiert zu psychischen Belastungen wenn dieses Handeln nicht mit dem "Wesen" (inklusive Charakter, angeborenes Temperament usw.) der jeweiligen Person übereinstimmt.

ZitatBezogen auf die Verluste der anderen meinte ich: Wenn man sich selbst unterdrückt, weil man sich mit seiner Meinung in der Minderheit sieht, wie tolerant kann man dann anderen gegenüber sein, wenn man selbst die Mehrheitsmeinung vertritt?

Du meinst, ich unterstelle den Anderen, genauso zu handeln wie ich es an ihrer Stelle tun würde?
Wenn man seine Meinung grundsätzlich sagt (auch wenn man in der Minderheit ist), geht man eben davon aus dass die Anderen grundsätzlich so tolerant sind, um diese Meinung nicht zu bestrafen weil man es selbst nicht tun würde. Das hat aber nichts damit zu tun, ob man ein "guter" oder "böser Mensch" ist, sondern vom Menschenbild das man hat. Meines ist eher negativ, und im anderen Fall ist es positiv.

vegetarian_cannibal

Ich sage immer meine Meinung, aber nicht, wenn ich gegen ne Wand rede. Dann schweige ich auch lieber. Gerade in politischen Foren im Internet ist das doch so: Verhärtete Fronten. Oft wird da diskutiert, bis jeder Seite die Argumente ausgehen, und niemand ist kompromißbereit. In Sachen Politik gibt es auch ca. 1-2 Themen, in denen ich zugegebenermaßen NICHT kompromißbereit bin. Wieso ist das so? Das wundert mich selbst. In allem bin ich tolerant, offen, selbstkritisch, auch in der Politik, aber bei wenigen politischen Themen SCHAFFE ich es einfach nicht, anders zu denken, da redet man auch bei mir gegen eine Wand. Deshalb vermeide ich es gleich, über diese Themen zu diskutieren, denn ich weiß ja: andere können mich nicht dazu bewegen, eine andere Denkweise anzunehmen, deshalb halte ich es für sinnlos, darüber zu diskutieren. Weningstens sehe ich ein, daß ich festgefahren bin, in dem Fall aber gerne. Fragt mich bitte nicht, welche Themen es sind, sonst kommt noch einer auf die Idee, sie doch mit mir zu diskutieren, und das geht einfach nicht. Ich bin nicht dazu in der Lage, von meinem Standpunkt abzuweichen. (Wieso? ich WEIß ES NICHT!!!) Ich akzeptiere und toleriere zwar jeden anderen Standpunkt-könnte aber nie den Standpunkt eines anderen zu diesen wenigen (2!) Themen annehmen

Anderen geht es doch in Sachen Politik genauso, nehme ich an? Oder bin ich da ein Einzelfall? Gibt es etwas, daß ihr vehemt vertretet, so vehement, daß ihr niemals von eurem Standpunkt abweichen würdet? Bitte antwortet ehrlich. Wenn das aber so ist, diskutiert ihr dann trotzdem über diese Themen? Wenn ja, warum? (Warum über ein Thema diskutieren, bei dem ich weiß, daß ich keine anderen Ansichten annehme, wieso will ich dann z.B. im Internet unbedingt andere Ansichten lesen-um mich darüber aufzuregen? Um zu streiten? Um andere zu überzeugen, die genauso festgefahren sind und sich auch nicht überzeugen lassen?) Ich gehe Streit lieber aus dem Weg, wenn ich erkannt habe, daß ich in etwas ein sturer Bock bin, oder, daß alle anderen stur sind-dann redest du ja auch gegen ne Wand, du kannst ner Wand auch sagen "Hey, geh mal weg da!" und sie bleibt trotzdem stehen also um es kurz zu machen...deshalb sage ich NICHT immer meine Meinung (wenn auch nur in seltenen Fällen).

pm.diebelshausen

26 Februar 2009, 17:43:45 #27 Letzte Bearbeitung: 26 Februar 2009, 17:45:44 von pm.diebelshausen
Interessante Frage, ob wir in einer toleranten Gesellschaft leben, oder nicht. Wäre mal einen eigenen Thread wert. Muss ich mit dem ganzen Zaun winken? *wink*

Ich stimme cannibal entschieden zu, was die Wand und die Fronten angeht. Das nennt man Streitkultur: wenn alles gesagt ist, kann man was anderes machen. Es geht bei einem Streit nicht darum, den anderen zu überzeugen, sondern zu sehen, wie spannend Menschen sind und wie unterschiedlich sie sein können. Daraus keinen Grabenkrieg werden zu lassen ist die Herausforderung, an der man immer wieder scheitert. Wer es schafft, die andere Meinung nicht einfach mit Dummheit gleichzusetzen und zu diskreditieren, hat Streitkultur und meine Hochachtung.

Im Internet wird nicht scharf geschossen, deshalb finde ich manches Gejammer über Angegriffenheit aufgrund von Meinungsäußerungen ziemlich daneben. Tolerante Gesellschaft heißt zwar freie Meinungsäußerung, aber nicht Recht auf Zustimmung. Und jemanden für doof zu halten, ist zwar doof, aber nicht intolerant oder gar verboten.

Wer sich aus dem Fenster lehnt muss mit schlechter Witterung rechnen!


Wie sieht denn ein derzeitiges Fazit zum Thema aus?

Ja, wir zeigen im Internet Seiten von uns, die wir andernorts bewusst oder unbewusst, aber meist aus sozial-taktischen Gründen unterdrücken? Und heißt das, dass es sich um Seiten unserer Persönlichkeit handelt, die besonders wichtig und zentral für unser Ich sind? Oder reicht es, zu sagen, diese Seiten sind nur wichtig, weil sie eben unterdrückt werden und nach einem Ventil lechzen?
Es gibt viele, die nicht reden, wenn sie verstummen sollten, und andere, die nicht fragen, wenn sie geantwortet haben.

vegetarian_cannibal

Zitat von: pm.diebelshausen am 26 Februar 2009, 17:43:45
Interessante Frage, ob wir in einer toleranten Gesellschaft leben, oder nicht. Wäre mal einen eigenen Thread wert. Muss ich mit dem ganzen Zaun winken? *wink*

Ich stimme cannibal entschieden zu, was die Wand und die Fronten angeht. Das nennt man Streitkultur: wenn alles gesagt ist, kann man was anderes machen. Es geht bei einem Streit nicht darum, den anderen zu überzeugen, sondern zu sehen, wie spannend Menschen sind und wie unterschiedlich sie sein können. Daraus keinen Grabenkrieg werden zu lassen ist die Herausforderung, an der man immer wieder scheitert. Wer es schafft, die andere Meinung nicht einfach mit Dummheit gleichzusetzen und zu diskreditieren, hat Streitkultur und meine Hochachtung.

Im Internet wird nicht scharf geschossen, deshalb finde ich manches Gejammer über Angegriffenheit aufgrund von Meinungsäußerungen ziemlich daneben. Tolerante Gesellschaft heißt zwar freie Meinungsäußerung, aber nicht Recht auf Zustimmung. Und jemanden für doof zu halten, ist zwar doof, aber nicht intolerant oder gar verboten.

Wer sich aus dem Fenster lehnt muss mit schlechter Witterung rechnen!


Wie sieht denn ein derzeitiges Fazit zum Thema aus?

Ja, wir zeigen im Internet Seiten von uns, die wir andernorts bewusst oder unbewusst, aber meist aus sozial-taktischen Gründen unterdrücken? Und heißt das, dass es sich um Seiten unserer Persönlichkeit handelt, die besonders wichtig und zentral für unser Ich sind? Oder reicht es, zu sagen, diese Seiten sind nur wichtig, weil sie eben unterdrückt werden und nach einem Ventil lechzen?

Hi, solange niemand Sachen behauptet, wie "Nu, die Erde ist doch eine Scheibe", kann man Meinungen nicht als dumm bewerten. Wenn jemand etwas aus Unwissenheit behauptet, wie mir auch schon passiert ist und weiterhin passieren wird (bsp.: Ich hielt einen japanischen Film für Trash, weil ich die Darstellungen übertrieben fand-Vinyard klärte mich dann darüber auf, daß im asiatischen raum gerne mal stark emotional geschauspielt wird, für solche Hinweise bin ich dankbar.), kann man das in der Situation gerne als dumm bewerten, nicht aber gleich den ganzen Menschen. Ansonsten, wie Dave Mustaine (Sänger der Metal-Band Megadeth) mal sagte: "Meinungen sind wie Arschlöcher, jeder hat eine und sie stinken oft". Deshalb kann ich Niemanden wegen einer Meinung als dumm darstellen, es sei denn, er widerspricht etwa wissenschaftlich belegten Tatsachen und beharrt nach ausdrücklicher Nennung von wissenschaftlichen Quellen, die das bestätigen, immer noch darauf. Bei sowas bin ich früher oft mal ausgeflippt,  mittlerweile aber auch nicht mehr (was nützt es denn?)

Ich unterdrücke aus sozial-taktischen Gründen aber eigentlich keine Meinung. Auch nicht bei Vorgesetzten. Es kommt dann auf die Art an, wie man etwas sagt. Also ich habe nie einen Teil meiner Persönlichkeit im Leben verborgen, im Internet auch nicht. Ich dachte aber, im Internet kann man sehr umgangssprachlich schreiben, und öfter Sachen wie z.B. "aaaach, ficken" (heißt bei mir und meinen Kumpels: "Das was ihr gesagt habt, hat mir nichts gebracht") schreiben, ohne gleich als minderbemittelter Vollasi dazustehen. Da habe ich halt falsch gedacht. Schade eigentlich, da ich eine Freundin von Gossensprache bin. (obgleich ich mich sehr wohl niveauvoll ausdrücken kann; hier geht es nicht darum, was ich kann, sondern was ich will, bzw. bevorzuge) Nun unterdrücke ich diese Seite hier bei mir. Zuhause red ich, wie ich lustig bin, aber auf der Arbeit natürlich nicht, und seit neustem im Internet auch nicht mehr. Schade eigentlich. Ich unterdrücke aus sozial-taktischen Gründen also meinen kindischen inneren Drang zur asozialen Umgangssprache, an welcher ich eigentlich solch eine helle Freude habe...(dazu stehe ich, es ist halt eine Vorliebe, wie man liest, ich kann auch anders.)

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