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Profondo Rosso / Rosso - Die Farbe des Todes (I 1975, Regie: Dario Argento)

Begonnen von ratz, 21 Juli 2014, 21:27:28

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ratz



OFDb: Rosso - Die Farbe des Todes

Regie: Dario Argento

mit: David Hemmings, Daria Nicolodi, Gabriele Lavia u. a.


Nach Hitchcock und vor Carpenter, zwischen Antonioni und de Palma: In Argentos Giallo-Meilenstein (zugleich ein Meta-Giallo) suchen David Hemmings und das Publikum nach der Auflösung eines Mordfalls, die beiden bereits im Grunde bekannt ist. Und zugleich mordet der typische Giallo-Killer in spektakulären Choreographien ästhetisierter Gewalt, kommt Hemmings in Screwball-Manier Daria Nicolodi näher, tobt der Goblin-Soundtrack und entfaltet Argento ein intelligentes Vexierspiel, das die Eigenarten des Genres umkreist....




Zitat von: ratz am 23 Mai 2014, 00:24:43

Na schön. Ich besorge mir jetzt Profondo Rosso. Aber wehe, es kommen lauter durchgeknallte Italiener darin vor!

Zitat von: PierrotLeFou am 20 Mai 2014, 17:45:05

Also "Profondo Rosso" muss man unbedingt gesehen haben... der Über-Giallo schlechthin, stylisch, witzig, spannend, over-the-top, im Hinblick auf die Motivation sicher nicht sonderlich überzeugend, als Reflexion des eigenen Genres eine Wucht... :respekt:

Soeben abgehakt. Oh Mann, der Giallo und ich, das wird leider nix mit uns beiden  :icon_mrgreen:

Die von Dir aufgezählten Attribute fand ich nur zum Teil vor, leider haben sie sich meist gegenseitig ausgehebelt. Over the Top und stylish ja, eine auffällige stilistische Kohärenz und Originalität im Erfinden von Kamera/Schnitt/Soundideen ist auf jeden Fall da. Allerdings fanden sie in denkbar unpassenden (und teils auch uneffektiven) Momenten Anwendung und sprangen stets derart ins Gesicht, daß sie mich jedesmal aus dem Film rausgerissen haben und eine Verbindung zu den Figuren (bzw. Pappkameraden) nie haben entstehen lassen. Das Schlimmste: Immer wenn es spannend werden wollte, und vor allem wenn abgeschlachtet wurde, setzte plötzlich flotte Beat-Musik ein  :icon_neutral: Ich war ratlos und nach 90 Minuten auch gelangweilt. Und wenn der Autositz von David Hemmings zu tief ist, das ist dann witzig?
Hm, weil es sich am Ende so anfühlte wie der Milch beim Sauerwerden zuzuschauen, kann ich den Komplettkäse-Verdacht nicht ablegen. Freilich liegt am Ende die Schuld komplett bei mir, ich bin einfach noch nicht reif (noch eine Käse-Metapher!) für das Genre  :icon_mrgreen:

PierrotLeFou

Zitat von: ratz am 21 Juli 2014, 21:27:28Oh Mann, der Giallo und ich, das wird leider nix mit uns beiden  :icon_mrgreen:
Schade... :icon_razz:


ZitatDie von Dir aufgezählten Attribute fand ich nur zum Teil vor, leider haben sie sich meist gegenseitig ausgehebelt. Over the Top und stylish ja, eine auffällige stilistische Kohärenz und Originalität im Erfinden von Kamera/Schnitt/Soundideen ist auf jeden Fall da. Allerdings fanden sie in denkbar unpassenden (und teils auch uneffektiven) Momenten Anwendung und sprangen stets derart ins Gesicht, daß sie mich jedesmal aus dem Film rausgerissen haben und eine Verbindung zu den Figuren (bzw. Pappkameraden) nie haben entstehen lassen.
Ich würde dem Film allerdings unterstellen, dass er sowas sehr bewusst macht... wenn der wundervolle Goblin-Soundtrack abbricht und erneut beginnt, wenn Hemmings eine Scheibe zerbricht oder einen Vorhang lüftet, dann reibt einem der Film seine Konstruiertheit ja sehr deutlich unter die Nase... ebenso, wenn der Soundtrack urplötzlich der affektierten Körpersprache der Nicolodi zu folgen beginnt. (Und während letzteres Beispiel ja aus zig Blödelfilmen bekannt ist, ist das erste Beispiel ja von verblüffender Originalität...)

ZitatDas Schlimmste: Immer wenn es spannend werden wollte, und vor allem wenn abgeschlachtet wurde, setzte plötzlich flotte Beat-Musik ein  :icon_neutral:
Morde geraten bei Argento ganz gerne zum Spektakel für Auge und Ohr... der Suspense-Wirkung ist das wohl tatsächlich nicht immer zuträglich, aber ich persönlich mag diese ausgestellte Künstlichkeit sehr gerne... (teilweise finde ich sie etwas "daneben", etwa wenn der eine Herr mehrfach mit den Schneidezähnen in Großaufnahme an eine Schrankecke gestoßen wird, aber häufig schaffen diese Szenen es, die vorher langsam aufgebaute Spannung in eine ästhetische Entladung zu überführen, die ich sehr genieße, wenngleich ihre Perversität teilweise sehr irritiert und in den schwächeren Beispielen etwas abgeschmackt anmutet. (Carpenter und de Palma ließen sich davon gleichermaßen inspirieren...)) :love:
Natürlich muss man das nicht mögen (oder auch bloß so empfinden wie ich), aber man sollte noch berücksichtigen dass der Giallo ohnehin ein zumeist auf Koplortageniveau mit der Psychologie spielendes Genre ist. (Was solls, die frühen Filme über psychische Defekte von Pabst über Hitchcock bis Huston waren auch nie viel subtiler. :D) Die große Qualität von "Profondo Rosso" sehe ich darin, dass er den Schwerpunkt gar nicht mal auf die Auflösung des Rätsels legt (die vielleicht auf dem Niveau eines Robert Bloch liegt), sondern vor allem die Bedeutung der Sinnlichkeit thematisiert (was übrigens sehr viele Giallos machen): abgesehen von den "Blow Up"-Anleihen geht es im Film an zentraler Stelle (und immer wieder auch am Rande) um die Fehler der Wahrnehmung und der erinnerten Wahrnehmung; beinahe jede Sequenz winkt in dieser Hinsicht mit dem Zaunpfahl: Das beginnt mit den zwei Statuen zu Beginn, die als feste Formen flüssige Formen verkörpern, das endet mit der Großaufnahme Hemmings in spiegelnder Blutoberfläche... hier verhandelt der Film eigentlich die ganze Zeit, was ein komplettes Genre die ganze Zeit über macht. (Und daran knüpfen "Amer" oder "Berberian Sound Studio" Jahre später an...)
Ob einem das gefällt, ist natürlich Ansichtssache, ich finde es aber in seiner Konsequenz und Radikalität sehr bewundernswürdig (und es gefällt mir... :icon_mrgreen:), zumal er sogar weniger penetrant daherkommt als Antonionis "Blow Up", der dafür in seiner Charakterzeichnung wieder sensibler ist...
Oliver Nöding hat auf seinem Blog ein sehr schönes Review verfasst, das mich noch darauf gestoßen hat, dass der Film ja auch ein Kommunikationsproblem behandelt, vor dem diese ganze Verfahren filmischer Manipulation auch nochmals in einem ganz neuen Licht erscheinen...

Ich würde jedenfalls nicht ausschließen, dass "Profondo Rosso" ein Film ist, der seine Qualitäten umso stärker offenbart, je mehr Giallothriller man sich zusätzlich aneignet. Aber wenn man mit denen nicht warm wird, dann lohnt es sich vielleicht auch wieder nicht so recht... ;)


ZitatIch war ratlos und nach 90 Minuten auch gelangweilt. Und wenn der Autositz von David Hemmings zu tief ist, das ist dann witzig?
Aber Hallo! :icon_mrgreen: Sicherlich ist der Humor nicht sonderlich tiefsinnig, aber die Art und Weise in der Hemmings fast schon screwball-comedy-artig zum Hanswurst neben seiner (zunächst gar nicht erwünschten) Partnerin gerät, ist mir sehr sympathisch... vor allem auch, weil der Film in dieser Geschlechterfrage eigentlich gar nicht konkret Stellung bezieht: ob Nicolodi beim Armdrücken geschummelt hat oder nicht, bemerkt man als Zuschauer(in) beim (ersten) Zuschauen vermutlich gar nicht. Und wenn er als Hanswurst erscheint, kann er selten was dafür: defekte Autositze und in schöner Regelmäßigkeit ausgesprochen ungünstig aufgestellte Telefonzellen sind eigentlich die Ursache. Die von den Figuren auf den Tisch gebrachte Frage nach dem starken Geschlecht geht zwar regelmäßig mit einer Herabsetzung Hemmings einher - für die er aber kaum jemals etwas kann. Der Vergleich ist also eigentlich unfair, wenn die verschiedenen Umstände unberücksichtigt bleiben. Was ich persönlich dann für mich aus diesem runnig gag herausziehe: der Status der Frau (zur Entstehungszeit des Films) entspricht nicht ihrem eigenen Handeln, sondern den äußeren Umständen...
Das mag vielleicht nicht die Intention gewesen sein, aber ich finde den Film (nicht nur) in dieser Hinsicht einfach sehr anregend und interessant. :D
"Eines Tages werde ich ein wahrhaft großes Drama schreiben. Niemand wird verstehen, worauf es hinaus will, aber alle werden nach Hause gehen mit einem vagen Gefühl der Unzufriedenheit mit ihrem Leben und ihrer Umgebung. Dann werden sie neue Tapeten aufhängen und die Sache vergessen." (Saki)

ratz


Zunächst mal danke ich Dir für die wie immer ausfühlichen  :icon_mrgreen: Darlegungen, hat mir auf jeden Fall das Lesen diverser von Fanseligkeit geschwängerter Reviews erspart... Sicherlich ist es problematisch, an das Giallo-Genre überhaupt gleich mit zwei Meta-Filmen heranzutreten (Berberian Soundstudio und Profonodo Rosso). Aber ehrlich gesagt bin ich wenig geneigt, die Grundlagen nachzuholen – für Genre-Dutzendware gleich welcher Coleur war mir meine Zeit immer schon zu kostbar.

Zitat von: PierrotLeFou am 22 Juli 2014, 03:17:51

(Carpenter und de Palma ließen sich davon gleichermaßen inspirieren...)) :love:
Natürlich muss man das nicht mögen (oder auch bloß so empfinden wie ich), aber man sollte noch berücksichtigen dass der Giallo ohnehin ein zumeist auf Koplortageniveau mit der Psychologie spielendes Genre ist. (Was solls, die frühen Filme über psychische Defekte von Pabst über Hitchcock bis Huston waren auch nie viel subtiler. :D)

Naja, aber zwischen der kruden, noch vorfreudschen Psychologie der frühesten (Stumm-)Filme und den 70ern liegen immerhin 50 Jahre, und die (freudianisch durchtränkten) Psycho-Modelle z.B. von Hitchcock sind m.E. sehr wohl differenziert bzw. deckt er ein breites Spektrum ab. An de Palma mußte ich auch denken, dessen gut hierherpassenden Raising Caine ich unlängst sah und mit dem ich - müßte mal nachdenken warum - wesentlich besser zurechtkam und an dem ich eine ähnliche Freude hatte, wie andere vermutlich an Argento.

Zitat...um die Fehler der Wahrnehmung und der erinnerten Wahrnehmung; beinahe jede Sequenz winkt in dieser Hinsicht mit dem Zaunpfahl: Das beginnt mit den zwei Statuen zu Beginn, die als feste Formen flüssige Formen verkörpern, das endet mit der Großaufnahme Hemmings in spiegelnder Blutoberfläche... hier verhandelt der Film eigentlich die ganze Zeit, was ein komplettes Genre die ganze Zeit über macht.

In den Punkten Wahrnehmung/Erinnerung kann ich folgen, aber bei feste Formen, flüssige Formen bin ich abgehängt  :icon_mrgreen:

Auch die Anspielungen auf die Geschlechterverhältnisse (Mann/Frau, Mutter/Sohn, Vater/Tochter [übrigens der loseste aller Fäden, das tierquälende Mädchen] Homosexualität) fielen mir auf, ebenso wie die Inkonsequenz bzw. das Fehlen jeder Pointe. So wirkt alles wie ein selbstzweckhaften Anschneiden von zeitgenössischen Diskursen, ohne eine substantielle Aussage dazu zu treffen oder treffen zu wollen – wenn dies in anderen Filmen ähnlich läuft, könnte ich mir vorstellen, daß eben dieses "Defizit" (kann ja wie gesagt gewollt sein) Argento & Konsorten in die filmgeschichtlich obskuren Slums jenseits des "Kanons" befördert, in dem sie sich momentan befinden (ist jetzt etwas steil gethest, aber warum nicht): Es sind trotz aller Anreicherungen am Ende doch eben Genrebeiträge, die nicht wirklich über sich hinausweisen.

Stefan M

"Profondo Rosso" wird ja gern als Argentos bester Film angesehen, aber ich kann die Meinung nicht teilen (zumal ich mit meinem Favoriten "Stendhal Syndrome", der ja nur sehr wenig von dem hat, weshalb Argento so viele Fans hat, ziemlich allein auf weiter Flur stehe). Er hat einfach arge Durststrecken, die den Film immer wieder aufzuhalten scheinen. Dazu gehören für mich auch die von PierrotLeFou erwähnten Screwballeinlagen im Auto, die bei mir ebenfalls nicht zünden.

Beim ganzen Drumherum, vor allem beim Ausbreiten der Mordtableaus, befindet sich Argento aber in absoluter Bestform und haut ordentlich auf den Putz. Eigentlich ist da jede Szene erinnerungswürdig. Der entscheidende Twist wirkt dann etwas angeklatscht für mich - daß David Hemmings sich erst daran erinnern kann, daß der vermeintliche Killer den einen Mord gar nicht begangen haben kann, weil er doch in der Zeit mit ihm zusammen war, kommt meines Erachtens viel zu spät (darauf hätte er eigentlich gleich kommen müssen, als er mit ihm konfrontiert wird) und soll dann halt die obligatorische Überraschung am Ende präsentieren. Da spielt wahrscheinlich dann doch wieder der Faktor Logik bei mir eine Rolle, den ich nicht immer abschalten kann, aber um den sich Argento ja eher wenig geschert hat. Allerdings finde ich die Idee sehr hübsch, den Killer bereits ganz am Anfang zu präsentieren, wenn auch nur für Sekundenbruchteile.

Formal sicherlich einer der besten Giallos. Ich kenne in dem Subgenre ja auch nicht sonderlich viele und bin erst in den letzten ein, zwei Jahren dazu gekommen, ein Interesse dafür zu entwickeln.
"Ein Leben ohne Mops ist möglich, aber sinnlos." (Loriot)

Synchronisation ist nicht grundsätzlich schlecht und manchmal sogar richtig gut!

PierrotLeFou

Zitat von: ratz am 22 Juli 2014, 18:06:39
Zitat...um die Fehler der Wahrnehmung und der erinnerten Wahrnehmung; beinahe jede Sequenz winkt in dieser Hinsicht mit dem Zaunpfahl: Das beginnt mit den zwei Statuen zu Beginn, die als feste Formen flüssige Formen verkörpern, das endet mit der Großaufnahme Hemmings in spiegelnder Blutoberfläche... hier verhandelt der Film eigentlich die ganze Zeit, was ein komplettes Genre die ganze Zeit über macht.

In den Punkten Wahrnehmung/Erinnerung kann ich folgen, aber bei feste Formen, flüssige Formen bin ich abgehängt  :icon_mrgreen:

Ich will damit auf die Statuen hinaus, die jeweils für einen Fluss stehen. Insofern halte ich diesen Schauplatz für sehr relevant, weil er gleichzeitig den Versuch zeigt, etwas Flüchtiges und steter Veränderung Unterworfenes in eine feste Form zu bringen. Und im Folgenden geht es dann vermehrt darum, wie erstarrte Formen (Gemälde, Fotos, mit starken Einschränkungen auch Texte) dazu beitragen, Veränderungen und zeitliche Verläufe zu vermitteln. Und ich denke, dass der Film dann auch nicht ganz zufällig mit einem Spiegelbild endet (auch wenn das natürlich in diesem Fall auch noch eine psychologisierende Funktion hat).
Ich will jetzt nicht sagen, dass der Film hier auf eine Ebene mit Proust oder Joyce zu stellen wäre, aber ich denke schon, dass man sich diesen (mMn sehr durchdacht eingesetzten) Aspekt fruchtbar machen kann: um filmische Manipulationstechniken zu überdenken, die gerade in Detektivfilmen & Krimis eine große Rolle spielen... um eine Bildtheorie zu erarbeiten (oder bloß zu veranschaulichen), die Bewegtbilder von Standbildern abgrenzt und auf die Rolle von Standbildern in Bewegtbildern eingeht... um Kommunikationsprobleme & Missverständnisse zu kommtentieren. (Etwa: den Umstand, dass der faire Vergleich zwischen den Geschlechtern gar nicht möglich ist, weil die Vertreter sich überhaupt niemals in einem neutralen Raum bewegen, nochmals dadurch zum Ausdruck bringen, dass man visuelle Eindrücke sich immer dann verändern lässt, wenn man ihnen neue oder umfangreichere visuelle Eindrücke an die Seite stellt...)
Natürlich führen solche Interpretationen ab einem gewissen Punkt immer weiter vom Film weg, aber ich bin ihm einfach dankbar dafür, dass er so viele keinesfalls willkürliche Elemente enthält, die mir da als Dreh- & Angelpunkt und Antriebskraft dienlich sein können. :D


ZitatSo wirkt alles wie ein selbstzweckhaften Anschneiden von zeitgenössischen Diskursen, ohne eine substantielle Aussage dazu zu treffen oder treffen zu wollen – wenn dies in anderen Filmen ähnlich läuft, könnte ich mir vorstellen, daß eben dieses "Defizit" (kann ja wie gesagt gewollt sein) Argento & Konsorten in die filmgeschichtlich obskuren Slums jenseits des "Kanons" befördert, in dem sie sich momentan befinden (ist jetzt etwas steil gethest, aber warum nicht): Es sind trotz aller Anreicherungen am Ende doch eben Genrebeiträge, die nicht wirklich über sich hinausweisen.

Wobei diese Stellung jenseits des Kanons ja bereits ins Wanken geraten ist: Stiglegger distanziert sich in dem Argento-Band ja recht deutlich von Filmwissenschaftlern/-kritikern, die "einfache" Genrefilme ausblenden oder nur am Rande betrachten... davon abgesehen, greift beispielsweise ein Virilio durchaus auf Argento zurück, um Veränderungen in der Beziehung von Mensch und Umwelt zu beschreiben. Ernst genommen werden manche Argentos zumindest teilweise durchaus von der Intelligenzija... ;)

Bei den meisten Giallothrillern würde ich dir recht geben: dass sind meist obskure Kriminalfälle mit abenteuerlichen, oftmals unglaubwürdigen, teilweise raffinierten Wendungen, voller sadomasochistischer Erotik und mit einem Hang zur sinnlichen Anschauung, deren handwerkliche Umsetzung man oftmals loben und als Fan in höchstem Ausmaß genießen kann. Bei "Profondo Rosso" und einem halben Dutzend anderer Beiträge nehme ich hingegen durchaus Ambitionen wahr, die über eine reine Genrearbeit und Formvollendung hinausgehen.
Davon abgesehen wäre ja zu fragen, ob formale Spielereien und reines Spiel mit Genreversatzstücken nicht durchaus etwas Gutes sein kann...

Hier scheint mir dein Urteil über reine Genrearbeiten milder zu sein:
Zitat von: ratz am 10 Februar 2010, 19:46:35
Praktisch für den Film:
Da gibt es nun also
1. Werke für den schnellen, direkten Genuß, ohne große Komplexität, mit maximaler Erregungserzeugung und Sensationsbefriedigung,
2. Filme, die beides miteinander verbinden, also sowohl schnell konsumierbar sind als auch für eine gründlichere Betrachtung lohnenswert sind, und
3. Filme, die den schnellen Genuß beim ersten Ansehen für ganz unwichtig oder sogar schlecht erachten und so komplex sind, daß man erst Arbeit investieren muß, um sie zu "verstehen".

Eric z.B. ist nun einfach ein gottloser und säuischer Epikureer, der klar formuliert, daß ihm die 1. und mit Einschränkungen die 2. Sorte die liebste ist, weil er keine Arbeit investieren will. Das ist sein gutes Recht. Ich selbst möchte keine der drei Sorten missen.

(Nicht dass du denkst, ich würde dich stalken... aber als ich gestern geschaut hatte, ob es nicht bereits einen eigenen "Profondo Rosso"-thread gibt, tauchte der Filmwissens-thread unter den Suchergebnissen auf und hat mein Interesse geweckt... ;))
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PierrotLeFou

Zitat von: Stefan M am 22 Juli 2014, 18:55:22die von PierrotLeFou erwähnten Screwballeinlagen im Auto, die bei mir ebenfalls nicht zünden.

Liegt das eigentlich bei Dir/Euch daran, dass Screwball-Komödien jetzt generell nicht so sehr beliebt sind... oder wirkt diese Komik in den 70ern anders? Oder gibt es Unterschiede zwischen Argentos Humor und dem von Capra oder Sturges?

Ich sehe natürlich, dass Argentos Humor in "Profondo Rosso" nicht so hintergründig frivol angelegt ist, was natürlich dem Wandel im Umgang mit Sexualität geschuldet ist... aber grundsätzlich scheint mir sein Duo (in Fettnäpfchen tretender Mann/eigensinnige Frau, erst ab-, dann zugeneigt) doch sehr stilecht an solchen Vorbildern orientiert zu sein.
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Stefan M

Zitat von: PierrotLeFou am 22 Juli 2014, 19:39:52
Zitat von: Stefan M am 22 Juli 2014, 18:55:22die von PierrotLeFou erwähnten Screwballeinlagen im Auto, die bei mir ebenfalls nicht zünden.

Liegt das eigentlich bei Dir/Euch daran, dass Screwball-Komödien jetzt generell nicht so sehr beliebt sind... oder wirkt diese Komik in den 70ern anders? Oder gibt es Unterschiede zwischen Argentos Humor und dem von Capra oder Sturges?
Ich würde zwar sagen, daß ich sicherlich nicht weltgrößter Screwball-Komödienfan bin, aber ich kann dem Genre generell schon was abgewinnen. Die Cary-Grant-Klassiker "Leoparden küßt man nicht" oder "Arsen und Spitzenhäubchen" finde ich zum Brüllen komisch, "Charade", der ja in den Dialogen auch in die Richtung geht, ist einer meiner fünf Lieblingsfilme (ob wohl jemals eine bessere, spritzigere Szene geschrieben worden ist als die, in der sich Audrey Hepburn und Cary Grant das erste Mal treffen?  :icon_mrgreen:) - und "Is' was, Doc?" würde ich mittlerweile sogar als meine Lieblingskomödie bezeichnen. Möglicherweise bringen es die Schauspieler auch einfach besser rüber als David Hemmings und Daria Nicolodi? Ich weiß es nicht. Der Funke sprang nicht über - beide Male nicht, die ich "Profondo Rosso" jetzt gesehen habe.
"Ein Leben ohne Mops ist möglich, aber sinnlos." (Loriot)

Synchronisation ist nicht grundsätzlich schlecht und manchmal sogar richtig gut!

ratz

Zitat von: PierrotLeFou am 22 Juli 2014, 19:15:33

Stiglegger distanziert sich in dem Argento-Band ja recht deutlich von Filmwissenschaftlern/-kritikern, die "einfache" Genrefilme ausblenden oder nur am Rande betrachten... davon abgesehen, greift beispielsweise ein Virilio durchaus auf Argento zurück, um Veränderungen in der Beziehung von Mensch und Umwelt zu beschreiben. Ernst genommen werden manche Argentos zumindest teilweise durchaus von der Intelligenzija... ;)


Ich kenne den Band natürlich nicht, gestehe Stiglegger aber zu, daß er - nach dem was ich so mitbekomme - einen gewissen Trend losgetreten oder legitimiert zu haben scheint, ein bißchen gründlicher im Schund (im Sinne von Pulp) zu wühlen und dabei vielleicht nicht gerade Perlen, aber doch die eine oder andere erhellende Erkenntnis zu gewinnen. Ob und in wie weit man dann aber Leuten wie z.B. Argento eine theoretische Reflexion zugestehen möchte, diese Sachen (Bilder, Symbole, Verweise), wie Du sagst, nicht willkürlich angewandt zu haben, oder viel mehr, entsprechend dem guten alten Diskursmodell, einfach diese Sachen aufgegriffen zu haben, die halt in en vogue waren bzw. so "herumschwirrten" oder in der Luft lagen. Überspitzt übelwollend formuliert: vielleicht hat Argento sich ein oder zwei Antonionis angeschaut (bzw. das ganz sicher) und dann mehr oder weniger gezielt, mehr oder weniger verstehend, ein paar Vokablen aus dessen Bildsprache übernommen, in sein Zeug eingebaut und sich cool dabei gefunden  :icon_mrgreen:
Tatsächlich finde ich Deine Ausführungen, obwohl sie natürlich Argento zur Ehre gereichen, doch etwas zu wohlwollend, denn was haben z.B. Reflexionen über zeitlich Verläufe oder Stillstände in einem Slasher zu suchen (dessen Brutalität mich übrigens gar nicht stört, so gibts wenigstens was zu sehen  ;)), der in der narrativen Struktur geradliniger nicht sein könnte. Auch kommen die sagenwirmal Antonioni-Referenzen nicht durchgängig vor, sondern nur an bestimmten Stellen (nachts in der Stadt). Ebenso zum heterogenen Eindruck tragen dann die besagten Screwball-Elemente bei, die für sich genommen gar nicht so furchtbar sind (bin der srewball-Comedy prinzipiell nicht abgeneigt), im Filmzusammenhang dann aber fehlplatziert wirken und eher stören oder aufhalten.

All diese Tonartwechsel (Horror - Screwball - "Kunstfilm") haben mich persönlich dann irgendwann abgehängt, weil sie sich nicht in ein stimmiges Ganzes fügen wollten.

PierrotLeFou

Zitat von: ratz am 30 Juli 2014, 12:54:47
All diese Tonartwechsel (Horror - Screwball - "Kunstfilm") haben mich persönlich dann irgendwann abgehängt, weil sie sich nicht in ein stimmiges Ganzes fügen wollten.
Kann ich verstehen, empfinde ich aber anders... :icon_mrgreen: wie unterhaltsam man einen Film findet, wie stimmig man dessen Tonfallwechseln findet bleibt wohl vor allem eine Geschmacksfrage, da gibt es wohl keinerlei Anhaltshaltpunkte, um das irgendwie zu objektivieren. (Allenfalls ließe sich noch sagen, dass "Profondo Rosso" - den Durchschnittsbewertungen auf diversen Filmseiten zufolge - mehr Leute unterhalten als gelangweilt hat...)


Zitat[...] einfach diese Sachen aufgegriffen zu haben, die halt in en vogue waren bzw. so "herumschwirrten" oder in der Luft lagen. Überspitzt übelwollend formuliert: vielleicht hat Argento sich ein oder zwei Antonionis angeschaut (bzw. das ganz sicher) und dann mehr oder weniger gezielt, mehr oder weniger verstehend, ein paar Vokablen aus dessen Bildsprache übernommen, in sein Zeug eingebaut und sich cool dabei gefunden  :icon_mrgreen:

Gut, Antonioni war damals sicherlich noch ein Gemeinplatz innerhalb der Filmkultur... Mel Brooks greift ihn noch 1977 sehr deutlich in "High Anxiety" auf, Antonioni selbst erlebte Anfang bis Mitte der 70er Jahre einen Popularitätsschub, "Blow Up" ist 1975 längst zu einem filmischen Aushängeschild der Swinging Sixties geworden. Insofern kann ich den Einwand gut verstehen. ;)
Wenn es jetzt um den Einsatz der Architektur geht, der bei Argento manchmal an Antonioni gemahnt, dann würde ich schon vermuten, dass er sich da einfach bestimmte Sachen abgeschaut hat... manches ist dann bloß eye candy, manches gerät wie bei Antonioni zu einem Bild der Entfremdung. Aber das Thema des Zeugen, der etwas gesehen hat, sich aber nicht mehr richtig erinnern kann, der nichts gesehen hat, aber sich zu erinnern glaubt, etc., sind Themen, die regelmäßig bei Argento (und diversen Giallothrillern) auftauchen; in "Profondo Rosso" werden die dann am auffälligsten herausgestellt - und dass Argento dann "Blow Up" als Bezugspunkt verwendet, um dieses Wahrnehmen-&-Erinnern-Thema auf den Tisch zu bringen, ist dann doch recht naheliegend.

Zitatwas haben z.B. Reflexionen über zeitlich Verläufe oder Stillstände in einem Slasher zu suchen (dessen Brutalität mich übrigens gar nicht stört, so gibts wenigstens was zu sehen  ;)), der in der narrativen Struktur geradliniger nicht sein könnte.
Ich würde sagen, dass sie sehr viel damit zu tun haben, wenn man den Film nicht als Slasher, sondern als Giallo sieht, also als fährtenlegende, manipulative, überraschungssüchtige Variation des Detektivfilms. ;) Und da geht es ziemlich häufig darum, aus irgendwelchen bewegungslosen (oder sich regelmäßig wiederholenden, kurzen) Bild- & Tonaufnahmen (oder flüchtig wahrgenommenen Eindrücken, die dann unverändert oder fließenden Veränderungen unterworfen durchs Bewusstsein spuken) einen Ablauf zu konstruieren. :D


ZitatAuch kommen die sagenwirmal Antonioni-Referenzen nicht durchgängig vor, sondern nur an bestimmten Stellen (nachts in der Stadt).
Ich würde ja noch die grundsätzlichen Variationen auf der Handlungsebene betonen: David Hemmings als Fotograf, der ein Foto besitzt, das nichts zeigt, für ihn jedoch immer deutlicher etwas zu zeigen scheint und unter dem Einfluss seiner Erinnerung und seines Nachdenkes als Indiz für ein Verbrechen gelten soll (das vermutlich gar nicht stattgefunden hat). Und bei Argento: David Hemmings als Pianist, der (als Ohrenzeuge einen Angst-/Schmerzensschrei missversteht und) als Augenzeuge eines Mordtatorts einen visuellen Eindruck richtig erinnert, ihn jedoch nicht zu lesen versteht (was auch für manche Fotos, Zeichnungen gilt)...
Gerade die Besetzung mit Hemmings ist ja vielfach als deutlicher Verweis auf "Blow Up" aufgefasst worden.

Dass sowas auch mehr glückliche Fügung gewesen sein kann, ist natürlich nicht auszuschließen. Aber ändert das etwas am Film? An Argentos Leistung als Person würde es etwas ändern, aber die interessiert mich nicht so sehr... (der Film wäre aber derselbe, so wie "Hamlet" noch immer "Hamlet" wäre, wenn nicht Shakespeare sondern Marlowe, Bacon oder 1000 Schimpansen ihn geschrieben hätten.)
Kann man denn beispielsweise sicher sagen, dass Hitchcock sich im klaren darüber war, welche Bedeutung "Madeleine" in der Weltliteratur besaß (heute noch weit mehr als 1958)? Boileau-Narcejac dürften den Namen mit Sorgfalt ausgewählt haben, aber wusste Hitchcock das? Und wenn nein: ändert das etwas an den Interpretationen von Marker oder Goodkin? Oder an Terry Gilliams Interpretation der Interpretation in "12 Monkeys", wenn Gilliam sich - im Gegensatz zum von Marker auserkorenen Drehbuchautoren - gar nicht mit Markers Interpretation beschäftigt haben will?
Insofern sind eigentlich auch meine "es wirkt durchdacht"-Äußerungen irreführend... wie durchdacht das Ganze wirklich war, ist mir im Grunde herzlich egal... mir geht es darum, wieviel Sinn ich darausziehen kann, um dabei in Erwägung zu ziehen, dass es zumindest vorstellbar ist, es sei durchdacht angefertigt worden.
Schlimmstenfalls ist es dann bei Argento wie bei Syberberg: ein in mancher Hinsicht doch recht dummer Mensch hat etwas geschaffen, aus dem man sich erhellende Gedanken herausziehen kann. :icon_mrgreen:
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Snake_Plissken

Ich hab Profondo Rosso vor kurzem das erste Mal gesehen und war ziemlich begeistert. Ich bin gar kein Italo- oder gar Giallo-Kenner und dementsprechend auch nicht mit den meisten Werken vertraut. Dementsprechend entspricht PR so gar nicht meinen Sehgewohnheiten.

Und was soll ich sagen? Ich fand den Film creepy as fuck. Schön fotogrfiert ist der ja eh, dafür ist Argento ja bekannt. Aber ich war irgendwie immer beunruhigt, weil ich echt nicht wusste, was wohl passieren wird. Dazu noch der fantastische Soundtrack. Ich war direkt angefixt.

Und jetzt bin ich wieder hier und hinterlasse meinen Senf in diesem Jahre alten Thread. Vergebt mir. ;-)
I made a movie in Bulgaria. I'm ready for everything!
-The incomparable Mr. Bruce Campbell-

Jedem Sturm sein Wasserglas
-Nagel-

Moonshade

"Du hältst durch und ich halte durch und nächstes Jahr gehen wir einen saufen!

"Anything invented after you're thirty-five is against the natural order of things.!" (Douglas Adams)

Retro

Zitat von: Snake_Plissken am  7 August 2019, 18:01:45Schön fotogrfiert ist der ja eh, dafür ist Argento ja bekannt.
Dazu noch der fantastische Soundtrack. Ich war direkt angefixt.
Vielleicht findest du hier ja noch ein paar bisher unbekannte Perlen für dich:

https://www.gemeinschaftsforum.com/forum/index.php/topic,211320.0.html

Snake_Plissken

Zitat von: Moonshade am  7 August 2019, 18:17:46Dir ist vergeben. :-)

*gehtvielroteFarbekaufen*

Ach, dich gibt es ja auch noch. Danke! :-)

Zitat von: Retro am  7 August 2019, 21:09:30
Zitat von: Snake_Plissken am  7 August 2019, 18:01:45Schön fotogrfiert ist der ja eh, dafür ist Argento ja bekannt.
Dazu noch der fantastische Soundtrack. Ich war direkt angefixt.
Vielleicht findest du hier ja noch ein paar bisher unbekannte Perlen für dich:

https://www.gemeinschaftsforum.com/forum/index.php/topic,211320.0.html

Opera hab ich schon gesehen. Den Rest werde ich nach und nach mal nachholen. Danke auf jeden Fall!
I made a movie in Bulgaria. I'm ready for everything!
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-Nagel-

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