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The Thin Red Line - Der Schmale Grat (Ex-Film der Woche)

Begonnen von ratz, 15 Mai 2010, 21:35:19

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ratz

15 Mai 2010, 21:35:19 Letzte Bearbeitung: 31 Mai 2010, 14:11:30 von MMeXX
So, irgendwann muß ich ja, und wie das so ist: Je länger man sich mit etwas Gutem beschäftigt, desto dicker wird einem der Kopf - egal, ich bleibe kursorisch und unsystematisch mit

The Thin Red Line (Der schmale Grat)


Komischerweise erinnere ich mich nicht, wie ich auf den Film gekommen bin. Im Kino war ich jedenfalls nicht, vermutlich hat er im TV meine Aufmerksamkeit erregt. Dann wieder ein paar Jahre nix, und irgendwie bin ich dann über The New World - ich hatte sowas wie Apocalypto erwartet, wurde total überrascht (die Blu Ray ist heute eingetroffen :D) - auf den Regisseur Terrence Malick gekommen. Hab also schnell die wenigen anderen Filme besorgt, die es von ihm gibt (Badlands, Days of Heaven, Thin Red Line) und wurde nicht enttäuscht. Man muß im Falle von Thin Red Line ein paar Worte zum Regisseur fallen lassen, sonst wird man dem Film nicht gerecht.


Der Regisseur

Malick ist ein Phänomen, das zum Spekulieren einlädt. Er macht etwa alle 5 - 20 Jahre einen Film, und dann einen solchen, der Kritiker und Publikum vom Hocker haut. Er ist extrem zurückgezogen, im Netz kursieren schätzungsweise zwei Photos von ihm. Er schafft es, mit einem akademischen Hintergrund und eindeutiger Autorenhandschrift in Cinematographie und Narration uramerikanische Themen aufzugreifen, die niemanden intellektuell vor den Kopf stoßen. Dabei wird über der phantastischen (Natur-)Photographie manchmal der spezielle Erzählstil vernachlässigt, der den Plot nicht aktiv vorantreibt, sondern gleichsam nebenbei passieren läßt. Typische Elemente in jedem Film sind die Off-Kommentare der handelnden Figuren, die mehr oder weniger mit dem zu tun haben, was gerade geschieht. Auch die Musikauswahl ist bemerkenswert eklektisch: Wagner und Mozart in The New World, Orff in Badlands, und Pärt oder Fauré in Thin Red Line.


Die Produktion

Die Herstellung von The Thin Red Line ist mythenumwoben, eine Unmenge hochkarätiger Schauspieler wurden versammelt, eine Vielzahl an Plots verwoben, so daß der erste Rohschnitt 5 - 6 Stunden umfaßte. Daran wurde radikal gekürzt, ganze Handlungsstränge wurden herausgeschnitten, Zugpferde wie George Clooney, Adrien Brody oder John Travolta haben eher Cameos als echte Rollen. Billy Bob Thorntons dreistündiges Voice-over wurden komplett weggelassen, die Postproduktion umfasste knapp zwei Jahre. Die ganze hochinteressante Geschichte kann man ausführlich im englischen Wikipedia-Artikel nachlesen.


Die "großen" Themen

Wenn es das gibt, dann ist Thin Red Line so etwas wie ein philosophischer Kriegsfilm. Nicht in dem Sinne, daß über den Krieg als solches reflektiert wird, sondern über die abstrakten Begriffe wie Leben und Tod, Gott, Glaube, Liebe. Es gibt eine markante Stelle, da fallen genau diese Begriffe, und Hans Zimmer kann nicht anders, als nach "Glory. Mery. Peace. Truth" einen bedeutungsschwangeren Akkord zu setzen (bei 31:20) - bisschen plakativ, sei's drum. Vor allem in den Voice-overs wird das ausgetragen - Witt spricht gleich zu Anfang über den Tod seiner Mutter, und später in den Kampfhandlungen natürlich auch. Dann der Gegensatz (?) Natur - Kultur: das Paradies auf der Südseeinsel, dem später die Unschuld verlorengeht, der Alligator, der zu Beginn frei ist und später gefesselt auf dem Truck liegt. Natürlich der Eingeborene, der an den Soldaten vorbeigeht und sie nicht einmal wahrnimmt, die überirdisch schönen grasbewachsenen Hügel, in denen sich Menschen gegenseitig erschießen. Menschen, die stufenweise von der Natur entfernt sind: Eingeborene, Witt, die Sean Penn-Figur, Staraos, verrohte und innerlich leere Soldaten (Nick Nolte, Travolta).


Religion

Der für mich persönlich lohnendste Zugang ist der oben erwähnte religiöse: Ich glaube, daß Malick wenn nicht christliche, so doch die allgemein religiöse Frage nach einem Gott und der Aufgabe des Menschen stellt. Der zeitlich und räumlich entlegene und quasi unpolitische Schauplatz bietet dafür den perfekten Hintergrund. Das Wort Amerika wird (falls ich nicht irre) nur ein einziges Mal ausgesprochen - von einem japanischen Soldaten, kurz bevor Witt erschossen wird. Ich finde sehr viele religiöse Verweise, abgesehen von den recht eindeutigen Voice-overs. Ganz zu Beginn die Aufnahmen der Baumkronen von unten, mit hereinfallenden Sonnenstrahlen - das ist die Natur als Gotteshaus, nicht umsonst erklingt "Annum per Annum" von Pärt, das für den Speyerer Dom geschrieben wurde. Oder als der durchdrehende Soldat (John Savage aus Deer Hunter  :icon_mrgreen:) das Gras herausreißt: "That's us!" - klarer Verweis auf den ersten Brief Petrus 1:24 ("Denn alles Fleisch ist wie Gras und alle Herrlichkeit der Menschen wie des Grases Blume"). Witt, der Nachdenkliche, Naive, noch Unschuldige, Mitfühlende, Tröstende, der "Magier", opfert sich, um seine Kameraden zu retten - gewaltlos, jesushaft. Auch die anderen Musikstücke ("The Unanswered Question" von Ives, "Requiem" von Fauré) haben eindeutig religiösen oder philosophischen Hintergrund, und es sollte mich sehr wundern, wenn die melanesischen Lieder nicht auch Kirchenlieder sind. Diese Beispiele sollen genügen.

Aber das alles drängt sich nicht in den Vordergrund, die großartig choreographierten Kampfszenen stehen im ausgewogenen Verhältnis zur Darstellung von Tod und Leiden auf beiden Seiten. Ich bin einfach nur begeistert und hege wie viele die klammheimliche Hoffnung, die für den Herbst angekündigte US-Veröffentlichung möge jenen 5-Stunden-Cut enthalten - unrealistisch, aber man wird noch träumen dürfen  ;)

Da ich die Kritiken in der OFDb (noch) nicht gelesen habe, würde mich also interessieren, was Euch an dem Film begeistert, und warum. In meiner Verblendung fällt mir auch kein Kritikpunkt ein, vielleicht kann dem abgeholfen werden  :icon_mrgreen:

cu, r.


Ach, noch schnell ein Interview mit Nock Nolte zur Entstehung von Thin Red Line - extrem interessant, es beginnt bei 25:43

Charlie Rose: December 21, 1998

ratz


Lektüre-Update: Dieser lange und gründliche Artikel hat ungefähr meine Stoßrichtung, und obwohl ich die Pantheismus-These nicht restlos überzeugend finde, sind noch ein paar gute Beobachtungen drin (Abschnitt 4: Golgota, Wasser). Assheuer von der ZEIT kapiert in seiner typischen bräsigen Metaphysik-Angst natürlich mal wieder gar nichts bzw. höchstens Spielberg. Den von ihm erwähnten Grünbein-Artikel gibt es hier.

cu, r.

barryconvex

Ich habe den ZEIT und Ikonenartikel minimal überflogen, so weit scheinen sie aber nicht auseinanderzuliegen. Wenn ich es in einem Wort zusammenfassen müßte, wäre es: Western (movie). Relativierung menschlichen Handels durch überzeitliche, tröstliche, mythisch aufgeladene Natur. Und das ist mir zu wenig für einen guten Film. Wie bei allen Filmen mit Kriegshandlung empfinde ich die durchgehende Besetzung mit Stars kontraproduktiv.

pm.diebelshausen

16 Mai 2010, 21:52:09 #3 Letzte Bearbeitung: 16 Mai 2010, 21:54:25 von pm.diebelshausen
Ach, Mensch, ich komme grad wieder nicht dazu, den Film erneut zu sehen. Und schön, dass Du Ratz Du so viel Hintergrund-Lese-Stoff bereitstellst. Ich bin nämlich in sekundär-Hinsicht über den Film überhaupt nicht informiert. Und ich muss zugeben, dass mich "Badlands" und "New World" dann doch eher enttäuscht haben statt das Erlebnis "Thin Red Line" auf ähnliche Weise zu flankieren.

Ich kam auf den Film, weil ich vor Jahren in Berlin so ein Kriegs- und vor allem Weltkriegs-Faible entwickelte. Und seitdem gehört dieser Film für mich zu den absolut besten Kriegsfilmen neben "Wege zum Ruhm", "Apocalypse Now", "The Deer Hunter", "Full Metal Jacket", "Battle for Haditha" und einer Handvoll anderer, nach denen lange nix kommt und dann all die anderen Kriegsfilme.

Die große Unaufgeregtheit und Ruhe, mit der dieser Film seine Handlung erzählt, die man ganz naheliegend eigentlich als Action inszenieren würde (Erstürmung eines Hügels, wie z.B. in "Hamburger Hill"), und die philosophisch-religiöse Dimension, in die er den Krieg einbettet, ist wohl das, was mich gepackt hat. Diese Ebene gibt es übrigens auch in der Musik, wo nämlich neben Hans Zimmer auch melanesische, christliche Gesänge zu hören sind. Und eine Schlüsselszene, die ich besonders intensiv erlebt habe, ist der Totenmonolog, in dem die bittere, rethorische Frage aufgeworfen wird, ob man denn denke, man werde am Ende verschont, bloß weil man irgendwie rechtschaffen und gebildet sei. Oder so ähnlich, ist jetzt stark aus der Erinnerung paraphrasiert.

Zwei Bemerkungen möchte ich noch geben, weil die Besetzung schon genannt wurde: ich erkenne manche der "Stars" kaum, insofern "verspielt" sich meines Erachtens hier ausnahmsweise mal das, was sonst tatsächlich eher kontraproduktiv wirkt; und die Besetzung mit John Travolta als dem schnöseligen ranghöheren Offizier über dem kernigen, in seiner Militärkarriere retardierten Nick Nolte ist ein kleiner Geniestreich - sowas muss man erstmal machen.
Es gibt viele, die nicht reden, wenn sie verstummen sollten, und andere, die nicht fragen, wenn sie geantwortet haben.

Reiben

Bevor ich mich in die genannten Artikel einlese und mich ausführlicher zu dem Filme äußere erstmal nur ein kurzes Brainstorming von mir :

- Ich habe den Film damals im Kino gesehen, ohne dass ich in irgendeiner Form wusste was mich erwartet. Am Anfang dachte ich wortwörtlich, ich wäre im falschen Film... Obwohl ich erst 14 war, war ich so gebannt von dem Film, dass ich ihn nach der Videoveröffentlichung mir direkt zugelegt habe und ihn mindestens 30 mal gesehen habe. Für mich die Definition von filmischer Poesie.

- Auch wenn die Literaturvorlage von James Jones in der Erstverfilmung werktgetreuer eingefanngen wurde, sollte man das zugrundeliegende Buch nicht unerwähnt lassen. Die Unterschiede sind allerdings so massiv, dass es einem bei der Erarbeitung von "Thin Red Line" wenig hilft. Das nur als Hinweis, damit niemand loszieht und sich das Buch holt um den Film besser zu verstehen. Dem Buch ist es allerdings zu verdnaken, dass der Film auf Story-Ebene ebenso etwas interessantes zu bieten hat, das in einem komplexen Verhätlnis zu den übergeordenten Themen steht.

- Interessant ist dagegen "Blutiger Strand" von 1967. Die Gemeinsamkeiten der beiden Filmen können kein Zufall sein, allerdings ist es zu lange her, als dass ich jetzt einen genauen Vergleich liefern könnte. Ein Beispiel wäre aber, dass in beiden Filmen eine Rückblende vorhanden ist, in der Mann einen Soldaten mit seiner Frau zusammen sieht.

- Die erste Folge von "The Pacific" beschäftigt sich ebenfalls mit Guadalcanal. Einzelne Bilder und teils auch mehr sind dabei eine deutliche Hommage an "Thin Red Line"

- Die "großen Themen" würde ich noch um den Begriff der menschlichen Seele (ob nun konkret oder als Kollektiv) erweitern.

- Das Verhältnis von Natur und Mensch steht natürlich im Fokus, wobei imo die alte Frage nach der Herkunft des Krieges zentral ist: Ist Krieg eine Eigenschaft, die aus dem Handeln des Menschen erwächst, oder ist er der schöpfungsinherent? Und wenn er aus menschlichem Handeln entsteht, warum hat der Mensch dann keinerlei Kontrolle darüber? Oder hat er doch? Entsteht der Krieg aus der Art, wie der Menschen mit seiner Umgebung (der Natur) umgeht?

- Auch wenn die religiösen Motive zuhauf vorhanden sind, so lassen sich jedoch viele der Monologe, die scheinbar an Gott gerichtet sind, auch anders deuten. Grade wenn man Natur, Seele, Krieg, Tod, etc. personifiziert betrachtet, kommt man teils zu völlig verschiedenen Deutungsmöglichkeiten, und muss nicht gleich jeden Monolog als ein Art Gebet betrachten. Dass man von hier aus nicht mehr lange laufen braucht, um zum Pantheismus zu kommen, ist wahr, aber ich denke ebenfalls, dass das zu weit geht.

- Bei den melanesischen Liedern handelt es sich tatsächlich um christliche Lieder. Vor allem zwei Titel sind sehr prominent verwendet und kommen auch als orchestrale Version vor: "Jisas yu holem hand blong mi" bedeutet "Jesus, du hälst meine Hand"; "God yu tekkem laef blong mi" könnte sowas wie "Gott, du nimmst/nimm mein Leben" bedeuten, aber da bin ich mir nicht sicher. Texte und Infos zu den Inhalten sind kaum zu finden (hier und hier und hier).
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ratz

Zitat von: barryconvex am 16 Mai 2010, 21:04:44
Ich habe den ZEIT und Ikonenartikel minimal überflogen, so weit scheinen sie aber nicht auseinanderzuliegen.


Ja, das kann beim minimalen Überfliegen schon mal passieren  :icon_mrgreen:. Eine Relativierung sehe ich im pauschalen Sinn auch nicht, natürlich ein In-Relation-Setzen. Denn die menschlichen Belange werden ja nicht verkleinert, sondern ausführlich durchgenommen. Aber für eine Diskussion müßtest Du schon genauer werden.

Zitat von: pm.diebelshausen am 16 Mai 2010, 21:52:09
Ich kam auf den Film, weil ich vor Jahren in Berlin so ein Kriegs- und vor allem Weltkriegs-Faible entwickelte.


Mir ist in dem Zuge aufgefallen, daß ich selbst kaum Kriegsfilme besitze, nur Apocalypse Now und eben Thin Red Line. Und irgendwie hab ich auch gerade keinen auf der Liste, den ich als unverzichtbar empfinde - kann sich natürlich noch ändern.

Zitat von: Reiben am 17 Mai 2010, 02:03:55
Auch wenn die Literaturvorlage von James Jones in der Erstverfilmung werktgetreuer eingefanngen wurde, sollte man das zugrundeliegende Buch nicht unerwähnt lassen.


Stimmt prinzipiell, aber manchmal sind die Filme um so vieles anders/besser als die Vorlage, so daß ich sie in diesem Fall einfach unter den Tisch hab fallen lassen ;). Die zentrale Frage nach dem Krieg würde ich noch erweitern auf die Frage nach Zwist und Zwietracht (und damit nach der Beschaffenheit des Menschlichen, wie Du sagst), deren extreme Form dann der Krieg ist.
Ich würde auch nicht alle der inneren Monologe als Gebet ansehen und die Menge an christlichen Symbolen auch nicht als Werbeveranstaltung betrachten. Es finden sich mindestens zwei Verweise auf die griechische Mythologie (Talls pοδοδάκτυλος Hώς - wobei er natürlich gerade nicht kapiert, daß das hier kein Troja mit Helden ist - sowie das sinngemäße Zitat "Ich treffe Dich jenseits des dunklen Wassers" - Styx - in den Voice-overs). Insofern bleiben die quasi überreligiösen Deutungsmöglichkeiten erhalten (obwohl das trotzdem nicht oft geschnallt wird, mal abgesehen von enttäuschten Genre-Kleingärtnern und "Pseudo-Philosophie"-Vorwerfern, siehe OFDb-Reviews).

Ich kann natürlich nicht mit 30-Mal anschauen mithalten (:icon_eek:), sondern bin eher verwundert, daß mir manche Dinge überhaupt nicht aufgefallen sind: Ich lese immer, ein Soldat bricht den Gefallenen die Goldzähne heraus? Ist mir bisher entgangen, muß die Stelle noch mal suchen, wer weiß was mich da abgelenkt hat ...

cu, r.

Karotte84

Ich kann zwar nicht im eigentlichen Sinne zur Diskussion beitragen, wollte mich aber mal als eine der Stimmen melden, denen der Film weniger gut gefallen hat (6/10). Eure Beitraege haben mir aber schon ein wenig geholfen, ein besseres Verstaendnis zu entwickeln. So stoesst mir jetzt die Tatsache, das die grossen Namen nur Cameos haben nicht mehr ganz so stark auf. Durch diese Auftritte bekommen Szenen eine Wertung zugesprochen, die sie gar nicht verdient haben. Der Film erscheint mir zusammenhanglos, episodenhaft und innerlich zerstueckelt, so dass ich jedes mal, wenn ich gerade in den Film einzutauchen versuche, herausgerissen werde. Dann bleibt nur der Eindruck vieles nicht gesehen zu haben. Im Vergleich zu Full Metal Jacket, der ja auch in Episoden unterteilt ist, kommt mir das ganze Werk "thin red line" schlicht unrund vor. Das ist mein Hauptkritikpunkt. Leider ist es schon wieder bald ein Jahr her, dass ich den Film gesehen habe, so dass mir nicht viel mehr in Erinnerung geblieben ist, um Weiteres anfuehren zu koennen.

pm.diebelshausen

22 Mai 2010, 12:47:19 #7 Letzte Bearbeitung: 22 Mai 2010, 12:49:40 von pm.diebelshausen
Habe mir "The Thin Red Line" gestern nochmal angesehen. Und erneut fiel mir die für einen amerikanischen Kriegsfilm ungewöhnlich meditative Erzählweise auf. Da werden einfach Bilder gesetzt (nur als Beispiel der kleine, wohl aus einem Nest gefallene Vogel, auf den inmitten einer Gefechtsszene geschnitten wird), auch stumm Blicke gewechselt (nur als Beispiel Nolte und Travolta auf dem Schiff in der Ruhe vor dem Sturm - der dann bei der Landung keiner ist) und sozusagen "laute" Bilder (von Kampf, von Schreien etc.) auf der Tonspur durch ruhige Kontrapunkte verfremdet. Obwohl in den Off-Monologen explizit die Fragen und Themen des Films genannt werden, spricht der Film nicht alles aus. Diese Monologe würde ich nicht gebete nennen, zumal selbst wenn (ein) Gott der Angesprochene zu sein scheint, dennoch andere "Dus" denkbar bleiben. Der Film wirft Fragen auf und reflektiert sie, beantwortet sie nicht. Religiöses hat da einen großen Anteil, ist aber nicht alles. Religion wäre da schon eher eine der möglichen Antworten, wenn es überhaupt Antworten geben kann. Übergeordneter sind da die Fragen nach dem Sinn des Lebens, nach der Einsamkeit, dem Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft, dem Grund für die Existenz von Schönem/Gutem und Hässlichem/Bösen in der Welt und danach ob es Alternativen gibt.

Zitat von: ratz am 18 Mai 2010, 09:30:50
Ich lese immer, ein Soldat bricht den Gefallenen die Goldzähne heraus? Ist mir bisher entgangen, muß die Stelle noch mal suchen, wer weiß was mich da abgelenkt hat ...

Man sieht nicht, wie er sie rausbricht, aber man sieht ihn mit einer Zange zu einem sterbenden japanischen Soldaten gehen (dt. DVD 1:50:28), zynisch mit ihm reden ("I'm gonna sink my teeth into your liver. You're dying.") und dann mit einem Säckchen und einer Handvoll Goldzähne. Später sitzt er im Regen (2:02.48), wieder mit dem Säckchen und wirft es - nach einer Rückblende zur früheren Szene, in der man ihn nun kurz den Mund eines Toten inspizieren sieht - von sich, als der Tote auf Japanisch zu ihm spricht. Danach hört man Gelächter.

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Es gibt viele, die nicht reden, wenn sie verstummen sollten, und andere, die nicht fragen, wenn sie geantwortet haben.

ratz

Zitat von: pm.diebelshausen am 22 Mai 2010, 12:47:19

Man sieht nicht, wie er sie rausbricht ...


Ist ja wirklich sonderbar. Ich meine, ich hab den Film mehrere Male gesehen, und trotzdem ... Bin ja geneigt, diesen Lapsus symptomatisch zu betrachten - die Off-Kommentare haben mich derart in Trance gelabert, daß mich diese doch recht vielzitierte Trope oder "Standardsituation" einfach nicht mehr interessiert hat :icon_mrgreen:

Was die Interpretation insgesamt betrifft, sind wir uns wohl einig. Nur in diesem Punkt:

Zitat von: pm.diebelshausen am 22 Mai 2010, 12:47:19

... die für einen amerikanischen Kriegsfilm ungewöhnlich meditative Erzählweise ...


steht für mich ganz klar die spezifische Handschrift des Autoren im Vordergrund: Es mag ein untypischer Kriegsfilm sein, weil es ein typischer Malick-Film ist (soweit man das sagen kann).

Zur Kritik von Karotte, daß die Episoden zerstückelt daherkommen, würde ich (abgesehen von den Problemen in der Postproduktion, die oben erwähnt sind und die vermutlich ihren Teil beigetragen haben) ähnlich argumentieren: Es ist ein Erzählstil, für den ein handelsüblicher Plot zweit- oder drittrangig ist. Hier spielen eher Worte und Bilder bzw. Bildfolgen zusammen, werden abstrakte Fragen hin- und hergewendet, interessiert nicht die individuelle Biographie der handelnden Personen, sondern das, was an ihr illustrierend oder kontrastierend wirkt. Damit ist der Vergleich zur Poesie, den Reiben angebracht hat, absolut berechtigt, wenn auch nicht 100% treffend, weil es eben doch eine andere Kunstform ist - allein, man hat (oder ich habe) derzeit kaum Vokabular für die Art des nicht-erzählenden oder nur-in-zweiter-Linie-erzählenden Filmemachens. Man denke nur an die späteren Tarkowskijs, die in dieser Hinsicht noch einige Schritte weiter gehen (z.B. Der Spiegel) und bei mir zwar Bewunderung und Genuß, aber auch große Schwierigkeiten bei der verbalen Durcharbeitung z.B. in einer Kritik erzeugen. Tja  ;).

Ich halte mich gerade davon ab, noch endlos über Poesie und Kontemplation zu schwurbeln, mein Punkt ist glaube ich klar geworden. Hier stehe ich, ist eben eine Herzensangelegenheit ...

cu, r.

pm.diebelshausen

23 Mai 2010, 22:18:54 #9 Letzte Bearbeitung: 31 Mai 2010, 14:11:52 von MMeXX
Ist ein Malick-Film, unbestritten. Kommt aus Amerika und ist gemacht von einem und mehreren Amerikanern. Mir ging es einfach darum, festzuhalten, wie schön es ist, dass auch in einem Land, das Film/Kino als Wirtschaftszweig seit bald 100 Jahren völlig durchorganisiert hat, immernoch Raum ist für einen Film wie "Thin Red Line", der in großem Maßstab (Produktion, Besetzung, Crew etc.) oder trotz dieses großen Maßstabes sich nicht den konventionellen Sehgewohnheiten beugt. Könnte ja auch sein, dass einem unsteten Regisseur wie Malick derart Steine in den Weg gelegt werden, dass er gar nicht mehr oder eben nicht mehr in Amerika produziert. Mir geht es bei Lynch z.B. ähnlich, weil der nicht nur sein eigens Ding, sondern auch noch ein sehr verschrobenes macht - aber in Amerika. Oder, auf kleinerem Niveau, Gus van Sant, der zwar auch kommerzielle Arbeiten übernommen hat (und nicht immer erfolgreich), aber in den Filmen, die seine ganz eigene Handschrift tragen, ebenfalls nicht gerade typisch amerikanisches Kino macht.

Malick macht genau das, was der Hauptgrund ist, warum ich Filme sehen will: er erzählt visuell und er überlässt es dem Zuschauer, etwas zu sehen. Da gibt es im ersten Drittel (meine ich, vielleicht auch später) diese kurze Einstellung, während die G.I.s den grasbedeckten Hügel heraufkrauchen, schießen und unter Beschuss stehen: vor ihnen taucht eine Schlange auf. Die Welt ist komplexer als Gewehr+Hügel=Krieg. Aber Malick überreizt das Motiv mit der Schlange (das natürlich im größeren Zusammenhang mit dem Thema Natur-Brutalität steht) nicht, die Einstellung ist kurz, bleibt unaufgelöst. Konventionell wäre z.B. ein unerschrockener Recke gekommen, der die Schlange mit bloßen Händen würgt - wie im Märchen. Und Märchen, das ist Hollywood im konventionellen und klassischen Sinn. Genau da macht Malick nicht mit, sondern er zeigt die Details, teilweise sich widersprechende Details, stellt sie auch in einen Zusammenhang, aber er erklärt sie nicht. Für mich ergeben sich daraus nicht Episoden, sondern Facetten. Und das dschungelhaft-verwirrende, das auch der Grund dafür sein mag, dass ich jetzt schon nicht mehr genau weiß, wo die Schlangenszene war, ist vielleicht auch dafür verantwortlich, dass Du Ratz Du die Goldzähne übersehen hast. Man sieht diesen Film ohnehin immer wieder neu. Oder besser: man kann darin nicht alles auf einmal sehen. Das hat er mit der Schöpfung gemein.
Es gibt viele, die nicht reden, wenn sie verstummen sollten, und andere, die nicht fragen, wenn sie geantwortet haben.

Reiben

Kann jemand was zur deutschen Bluray im Vergleich zur BluRay der Criterion Collection sagen? Sehe ich das richtig, dass im Bonusmaterial der Deutschen einige Sachen fehlen? Oder ist der Fassungseintrag einfach nur unzureichend?
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Crumby Crumb & the Cunty Bunch

Ja, es fehlt Bonusmaterial - der Eintrag ist korrekt. Das Bild ist ein µ schlechter als das der CC aber immer noch sehr gut. Wer die CC nicht abspielen kann ist mit der Fox auf jeden Fall gut bedient.
'Are you talkin' to me? You talkin' to me?' - Raging Bull, Pacino. Love that movie!

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