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Die Blechtrommel (Ex-Film der Woche)

Begonnen von PierrotLeFou, 10 Juli 2011, 18:40:00

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PierrotLeFou

10 Juli 2011, 18:40:00 Letzte Bearbeitung: 11 Juli 2011, 12:14:33 von MMeXX
Na gut, dann wäre es ja wohl soweit... so ganz bekomme ich meine Gedanken nicht geordnet, das folgende ist entsprechend etwas konfus geraten...



Der Roman "Die Blechtrommel" - den ich vor allem deshalb gelesen hatte, weil meine Eltern mir (zu jung!) den Film strengstens verboten hatten - zählte sofort, schlagartig zu meinen Lieblingsromanen, nur wenig kam da noch ran... insofern hatte es der Film nicht allzu schwer:
Schlöndorffs "Die Blechtrommel" - in enger Zusammenarbeit mit Grass entstanden - hielt sich bereits in seiner "alten" Fassung eng an die Vorlage: verfilmt wurde zwar nur exakt die Hälfte aller Kapitel (wobei das komplette dritte Buch weggelassen wurde), diese jedoch sehr detailliert, vereinzelte Dialoge wurden teilweise übernommen und es tauchten am Rande immer wieder Figuren auf, die im Film fast nur als Statisten erschienen sind, während sie im Buch zu einprägsamen Nebenereignissen geraten (die Truczinskis, Herr Fajngold).
Zumindest die "Episode" um Herrn Fajngold wird im DC dann wieder vervollständigt, weitere "neue" Szenen geben Gretchen Scheffler und dem Gemüsehändler Greff mehr Platz, bauen die Beziehung zwischen Oskar und seinen zwei mutmaßlichen Vätern weiter aus. Die Rasputin-Szene und die Nonnen am Strand sorgen für einen surreal anmutenden Touch, der zuvor nur deutlich abgeschwächter wahrzunehmen war: er geht vor allem auf Jean-Claude Carriere zurück, der hier auch den Rasputin spielt.
Neben Carriere war mit Maurice Jarre als Komponist noch ein weiterer international erfolgreicher Filmschaffender dabei, der schon für David Lean oder Georges Franju immer wieder eine einprägsame Musikuntermalung erschaffen hatte.

In einer Hinsicht wird die lit. Vorlage etwas vereinfacht (wenn man von der generellen Kürzung absieht): während Oskar im Roman noch gegen alle antrommelt, stehen die Nationalsozialisten im Film etwas stärker im Vordergrund (was noch stärker zu der eher problematischen Annahme führt, Oskar protestiere nicht nur gegen die Welt der Erwachsenen, sondern auch gegen die Nazis).
Ansonsten gibt sich der Film aber ähnlich uneindeutig, wie es schon bei der lit. Vorlage der Fall war: einerseits wird versucht, ein heimeliges, gemütliches, normales Umfeld zu schaffen, in dem der Nationalsozialismus sich schließlich entfaltet, andererseits wird versucht zu zeigen, wieviel Abgründiges schon im scheinbar Normalen steckt.
Da ist das Füßeln unter dem Tisch zwischen Jan und Agnes während Oskars Geburtstag (Oskars Perspektive ist einzig in der Lage, diesen Vorgang wahrzunehmen), da ist der Gemüsehändler, der als Pfadfinderführer mit seinen Jungs homoerotisch aufgeladene Bindungen eingeht, da ist die anrüchige Lektüre von Gretchen und Agnes... Film und Buch werden nicht müde aufzuzeigen, wie stark Sexualität und Gewalt schon im nächsten Umfeld ganz sanft erblühen, freilich immer unter dem Tisch, im Keller, in den eigenen vier Wänden, sonstwo solange es nur dem öffentlichen Blick verborgen bleibt.
Das gibt dieser gemütlichen Normalität, in der dann der Nationalsozialismus entsteht, einen unangenehmen Anstrich. Zugleich kann man sich der verführerischen Gemütlichkeit und Heimeligkeit nur schwer entziehen, sie hat trotz alledem etwas sympathisches, ganz besonders wenn etwa ein Alfred selbst plötzlich zum Opfer des Nationalsozialismus wird (seine Konfrontation mit der Gesundheitsbehörde, die im DC deutlicher wird), oder wenn Greff sich erhängt (auf den ersten Blick wegen Betrugsvorwürfen, aber auch - der Film macht das etwas deutlicher als das Buch - wegen seiner Homosexualität)... (im Buch wird der Musiker Meyn noch wegen Tierquälerei aus der Partei geschmissen, ausgestoßen werden...) Hier klingt schon diese Täter-als-Opfer-denken-Haltung an (der Führer als Verführer, als Gasmann im Weihnachtsmann-Kostüm), die Grass mit "Im Krebsgang" nochmal aufgreift (und die ihm neben viel Lob auch durchaus auch scharfe Kritik eingebracht hat)...
Dieses episodenhafte, wild fabulierende Voranschreiten der Geschichte führt letztlich dazu, dass eher ein Brei aus Haltungen entsteht, und dass sich keine eindeutig greifbare lineare Aussage herauslesen lässt...
"Eines Tages werde ich ein wahrhaft großes Drama schreiben. Niemand wird verstehen, worauf es hinaus will, aber alle werden nach Hause gehen mit einem vagen Gefühl der Unzufriedenheit mit ihrem Leben und ihrer Umgebung. Dann werden sie neue Tapeten aufhängen und die Sache vergessen." (Saki)

ratz

11 Juli 2011, 00:43:04 #1 Letzte Bearbeitung: 11 Juli 2011, 12:14:39 von MMeXX
Zitat von: PierrotLeFou am 10 Juli 2011, 18:40:00

Ansonsten gibt sich der Film aber ähnlich uneindeutig, wie es schon bei der lit. Vorlage der Fall war ...

Dieses episodenhafte, wild fabulierende Voranschreiten der Geschichte führt letztlich dazu, dass eher ein Brei aus Haltungen entsteht, und dass sich keine eindeutig greifbare lineare Aussage herauslesen lässt...

Das ist aber genau das, was mir am Film immer gefallen hat: Daß es keine Schwarz-Weiß-Malerei gibt, keine eindeutigen Feindbilder und -erklärungen, sondern, zumindest in Oskars Umfeld, Kleinbürger, die ihr Mäntelchen in den jeweils günstigsten Wind halten. Das hat mit der "Realität" oder der "Wahrheit" sicher noch am meisten zu tun.

Leider habe ich das Buch vor viel zu langer Zeit gelesen, als ich, in der Rückschau, nicht wirklich reif dafür war. Allerdings haben mich westdeutsche Nachkriegsbefindlichkeiten schon damals nicht so interessiert, insofern kommt mir die zeitliche Beschränkung der Verfilmung sehr gelegen. Aus heutiger Perspektive interessiert mich dann mehr die deutsch-polnische Gemengelage, die sehr schön getroffen und mir auch sonst (zumindest derzeit) ein Anliegen ist.

Der DC hat den fröhlich mäandernden Bilderbogen sehr schön ergänzt (die bedenkliche Veröffentlichungspolitik, ursprüngliche Kinocuts, siehe Formans Amadeus, in der Versenkung verschwinden zu lassen, ist ein anderes Thema), und nach etwa 10-jährigem Wiedersehen hat mich der Film, vermutlich sogar an den gleichen Stellen, vor Vergnügen aufjauchzen lassen. Ist er in der OFDb mit Drama und Krieg nicht unzulänglich be-Genre-t? Egal, ein erstaunliches Stück, wie es Herrn Schlöndorff, soweit ich das sehe, ja nie wieder von der Hand gehen wollte, seine anderen Literaturverfilmungen, und auf diese meinte er sich ja partout versteifen zu müssen, wirken dagegen dröge und uninspiriert, vielleicht, weil nie wieder eine so sagenhafte Konstellation aus Vorlage (Grass' knackige Sprache!), Zeitkolorit und Schauspielern zusammenkam.

cu, r.

PierrotLeFou

11 Juli 2011, 00:57:03 #2 Letzte Bearbeitung: 11 Juli 2011, 12:14:48 von MMeXX
Zitat von: ratz am 11 Juli 2011, 00:43:04
Zitat von: PierrotLeFou am 10 Juli 2011, 18:40:00

Ansonsten gibt sich der Film aber ähnlich uneindeutig, wie es schon bei der lit. Vorlage der Fall war ...

Dieses episodenhafte, wild fabulierende Voranschreiten der Geschichte führt letztlich dazu, dass eher ein Brei aus Haltungen entsteht, und dass sich keine eindeutig greifbare lineare Aussage herauslesen lässt...

Das ist aber genau das, was mir am Film immer gefallen hat: Daß es keine Schwarz-Weiß-Malerei gibt, keine eindeutigen Feindbilder und -erklärungen, sondern, zumindest in Oskars Umfeld, Kleinbürger, die ihr Mäntelchen in den jeweils günstigsten Wind halten. Das hat mit der "Realität" oder der "Wahrheit" sicher noch am meisten zu tun.

Achso, ich hätte vielleicht noch drauf hinweisen sollen, dass mir das Uneindeutige persönlich auch sehr gefällt, das sollte also keinen Kritikpunkt darstellen... :D

Zum Thema Uneindeutigkeit noch etwas, was ich vorhin vergessen hatte: während der Roman mit seinem Ich-Erzähler (der zum Ende hin mal eingetauscht wird, zumindest er selbst behauptet es, bevor er "fremde" Texte folgen lässt) doch immer die Möglichkeit der Lüge im Raum lässt (trommelt etwa die Jesus-Statue wirklich auf Oskars Trommel oder belügt der Erzähler seine Leser hier?), stellt der Film sein Geschehen nie in Frage... das hat natürlich zur Folge, dass der Film wunderbar erscheint, während der Roman sich immer auch als Veröffentlichung des "Insassen einer Heil- und Pflegeanstalt" lesen lässt... (auch dieser Punkt entfällt ja im Film...)
Im Film wird definitiv Glas zersungen, im Film beeinflusst Oskar tatsächlich Mitmenschen mit seiner Trommel (auf der Maiwiese), im Film wächst Oskar tatsächlich nicht mehr, während der Roman die Unzuverlässigkeit des Ich-Erzählers doch hin und wieder mitschwingen lässt. Allenfalls die in den Himmel aufsteigenden Nonnen im DC könnte man noch als subjektive Sicht oder als inszenatorischen Kommentar auffassen...

Soll aber auch kein Kritikpunkt meinerseits sein, für mich ist "Die Blechtrommel" neben "M" der beste deutsche Film der Tonfilmzeit... :love:
"Eines Tages werde ich ein wahrhaft großes Drama schreiben. Niemand wird verstehen, worauf es hinaus will, aber alle werden nach Hause gehen mit einem vagen Gefühl der Unzufriedenheit mit ihrem Leben und ihrer Umgebung. Dann werden sie neue Tapeten aufhängen und die Sache vergessen." (Saki)

pm.diebelshausen

11 Juli 2011, 02:02:01 #3 Letzte Bearbeitung: 12 Juli 2011, 00:14:18 von pm.diebelshausen
Der Surrealismus ist durch Rasputin und die Nonnen deutlicher, ja, aber er war schon immer im Film als dessen Stil neben Überzeichnungen, Klischees usw. Insgesamt wirkt er auf mich wie entrückte Realität und insofern bedarf es nicht der Verunsicherung durch einen explizit unzuverlässigen Erzähler. Trotz des Realitätsbezugs und des detaillierten und reichlichen Zeitkolorits (neben der Kamera sind Ausstattung, Requisite, Set-Design, Kostüme und Maske allesamt hervorragend und mit verantwortlich für die Überzeugungskraft des Films) ist da diese Märchenhaftigkeit, das Skurrile, das beinahe Slapstickhafte und der Witz. Grandios z.B. die Kundgebung, bei der die erigierten Naziarme in schwingenden Walzertakt münden. Das hat schon was von Lubitsch oder, ja, Mel Brooks.

Letztlich, ich gebe es zu, verstehe ich den Film nicht - außer, dass er, wie Ratz so schön formuliert, ein fröhlich mäandernder Bilderbogen ist. Der Rhythmus ist perfekt, auch mit den neu eingefügten Szenen (selbst dem Doku-/Archivmaterial) und kleineren Veränderungen - großartige Montage damals und heute. So war ich trotz eines merkwürdigen Gefühls der Ratlosigkeit durchweg gebannt.

Die bereicherndsten neuen alten Szenen sind meines Erachtens die mit Fajngold. Nicht nur dass sie ein intensives Bild des zutiefst Verletzten Überlebenden entwerfen, sondern mit ihnen wird auch der Kreis rund, der mit Sigismund Markus angezeichnet wurde.

Für mich standen beim jetzigen Sehen der Humor und der Sex im Vordergrund. Ich dachte auch an Fellini, obwohl ich von dem bisher kaum etwas kenne, außer einzelne Bilder. Und an Stummfilme - da gibt es klare Anspielungen, besonders zu Beginn 1899 mit leicht beschleunigtem Bild und unruhigem Flackern. Interessant auch, dass Schlöndorff selbst im Making-of-Interview Méliès ins Spiel bringt, als es um Tricktechniken bei der Produktion geht.

Im Laufe des Tages las ich eine sehr passable Rezension des Filmes von Hans C. Blumenberg, damals bei der ZEIT. Da fand ich manche Gedanken wieder. (Kann man z.B. hier online nachlesen.)
Es gibt viele, die nicht reden, wenn sie verstummen sollten, und andere, die nicht fragen, wenn sie geantwortet haben.

ratz


Ah, jetzt seh ich erst den Blumenberg-Link, werd ich mir gleich mal einpfeifen.

Zitat von: pm.diebelshausen am 11 Juli 2011, 02:02:01

Letztlich, ich gebe es zu, verstehe ich den Film nicht ... So war ich trotz eines merkwürdigen Gefühls der Ratlosigkeit durchweg gebannt.


Was genau meinst Du damit, warum so ratlos? Ich interpretiere das ganze Ding so, daß Grass versucht, eine Außenseiterfigur zu konstruieren, die halt doch nicht ganz draußen steht, um eine gleichzeitig involvierte als auch objektive Betrachtungsposition auf die Zeitumstände zu gewinnen. Grass/Oskar ist gleichzeitig Kind und Erwachsener, Deutscher und Pole, Politischer und Unpolitischer (gibt es eigentlich gesunden Menschenverstand, und wenn, ist er jemals politisch?), für sein Handeln verantwortlich und nicht verantwortlich und, wie Pierrot sagte, die Wahrheit sagender und flunkernder Erzähler zugleich. Das ist eigentlich ein sehr fortschrittliches Hinterfragen von (heutzutage an den Akademien zu Tode verhandelten) Identitäts- und Fremdheitskonzepten. Toll.

Apropos, gibt es jemanden, der den Film nicht tollfindet?

cu, r.

pm.diebelshausen

Ich meinte damit, dass ich genau das, was Du benennst, also auch das Schelmenhafte und klassischerweise Pikareske, von Film und Roman schon verstehe, bzw. es mir sozusagen bekannt ist, aber nicht unbedingt einen Zugang zum Film bietet. Ich kann es hinnehmen, aber ich komme dann nicht weit. Muss ich vielleicht auch nicht. Immerhin scheint mir auch der Roman weniger eine Erklärung seiner Zeit als vielmehr ein (im wahrsten Sinne des Wortes) unverschämter Befreiungsschlag von ihr. Ich kann der Episodenhaftigkeit des Filmes nicht folgen - das ist aber kein Manko, sondern gehört gerade zum (im wahrsten Sinne des Wortes) Witz des Films. Blumenberg beschreibt das auch an einer Stelle:

Das Buch der unzähligen disparaten Stile und Stimmungslagen, übersetzt Schlöndorff, der Regisseur ohne Stil, auf einleuchtende Weise in eine locker gefügte Nummernrevue. Von der hastigen, gleichwohl lustvollen Zeugung unter den vier weiten Röcken der Anna Bronski auf einem kaschubischen Kartoffelacker bis zum erzwungenen Aufbruch des überlebenden Teils der Bronski/Matzerath-Sippe 1943 im Güterzug von Danzig in den Westen reiht sich, durch gelegentliche Off-Kommentare des Erzählers Oskar nicht übertrieben streng gegliedert, eine Episode an die andere. Den "großen epischen Atem", den schon der Grass-Roman glücklicherweise nicht besaß, wird man hier vergeblich suchen. Die Erzählweise ist eher fragmentarisch, fast eine Folge von höchst unterschiedlichen Kurzfilmen, deren Kontinuität nur durch die wiederkehrenden Darsteller gewahrt bleibt. Beschaulicher Naturalismus hat keine Chance sich einzuschleichen, allzu drastisch prallen Horror- und Heimatfilm, Slapstick und heroisches Drama, kleinbürgerliches Satyrspiel und politische Satire aufeinander: ein schönes Chaos.
http://www.filmportal.de/df/47/Artikel,,,,,print,,,ECC6FDB3DDABCC6AE03053D50B371E79,,,,,,,,,,,,,,,,,,,,,,,,,,,.html
Es gibt viele, die nicht reden, wenn sie verstummen sollten, und andere, die nicht fragen, wenn sie geantwortet haben.

ratz


In der Tat, der Hans-Christoph spricht viel Gutes und Wahres und hat mein oben beschriebenes Unbehagen mit Schlöndorff auf die Pointe des "Regisseurs ohne Stil" gebracht. Das war in diesem Falle nützlich, in vielen anderen Fällen war es das nicht. Ich kriege aber direkt Lust, das Buch noch mal zu lesen. Und ich habs noch nicht mal hier  :icon_confused:

PierrotLeFou

Zitat von: pm.diebelshausen am 13 Juli 2011, 21:03:39
Immerhin scheint mir auch der Roman weniger eine Erklärung seiner Zeit als vielmehr ein (im wahrsten Sinne des Wortes) unverschämter Befreiungsschlag von ihr.
Wobei mir im Roman - aber auch noch im Film - eine Tendenz auffällt, Hitler zum Verführer ansonsten (im Prinzip) braver Bürger abzustemplen (um es mal etwas überspitzt auszudrücken), was mir dann doch ein recht mildes Urteil über das Deutschland dieser Zeit zu sein scheint, insofern die Schuld auf eine (!) Ursache zurückgeführt wird (zumindest tendenziell)...
Insofern würde ich wohl eher nicht von einem Befreiungsschlag sprechen...


@ratz: das Hörbuch von Grass selbst gelesen ist übrigens wirklich fein... hat mir schon mehrfach die Abende versüßt... (gute Hörbücher ziehe ich bei umfangreichen Werken einer zweiten, dritten vierten usw. Lektüre oftmals vor...)
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pm.diebelshausen

Befreiungsschlag nicht im moralischen, sondern im kulturellen Sinne, insbesondere sprachlich, nachdem gerade sprachlich und symbolisch Vieles eng und starr ideologisch besetzt worden war und in der Nachkriegszeit Befreiungsbestrebungen in dieser Hinsicht nötig wurden. Grass' Roman empfinde ich da sehr aggressiv, während andere Werke aus dem Kreis der Gruppe '47 bei gleicher oder ähnlicher Intention stiller, sogar komplentativ vorgingen.

Über die Hitlerfigur kann man sich dennoch zu recht streiten. Bezüglich der "braven Bürger" fällt mir aber auch Selbstverschuldung ein: Grausamkeit ist doch bereits vor und unabhängig von den Nazis in Buch und Film vorhanden: der Gebrauch der Frauen, die Schule/Lehrerin, die anderen Kinder (Suppe), der Aal-Fresszwang... alles aber eben nicht innerhalb eines historisch analysierenden Zeitbildes, sondern als Kleckse in einer Groteske. Ich finde, entschlüsseln kann man weder das Buch noch den Film - insofern müsste man den Film eher "lynchisch" sehen: wie einen Traum mit all seinen Absurditäten und zugleich Resten aus der Vergangenheit.

Ich schließe mich an: Grass ist ein großartiger Geschichtenerzähler, wenn er sie selber, d.h. mit seiner Stimme erzählt.

Und: ich hoffe auch sehr, dass hier mal wer was beiträgt, der den Film scheiße findet - denke, das ist nämlich gut möglich, habe aber grad keine Lust auf den devil's advocate...
Es gibt viele, die nicht reden, wenn sie verstummen sollten, und andere, die nicht fragen, wenn sie geantwortet haben.

barryconvex

Zitat von: PierrotLeFou am 11 Juli 2011, 00:57:03
Zum Thema Uneindeutigkeit noch etwas, was ich vorhin vergessen hatte: während der Roman mit seinem Ich-Erzähler (der zum Ende hin mal eingetauscht wird, zumindest er selbst behauptet es, bevor er "fremde" Texte folgen lässt) doch immer die Möglichkeit der Lüge im Raum lässt

Es ist schon eine Weile her, daß ich den Roman gelesen habe, aber ich glaube, Grass führt sogar die Trommel als eigentlichen Erzähler der Geschichte ein (was recht gut passen würde zum Verzicht auf Schwarz/Weiß und auch zu Surrealismus.

PierrotLeFou

Zitat von: barryconvex am 20 Juli 2011, 04:09:28
Zitat von: PierrotLeFou am 11 Juli 2011, 00:57:03
Zum Thema Uneindeutigkeit noch etwas, was ich vorhin vergessen hatte: während der Roman mit seinem Ich-Erzähler (der zum Ende hin mal eingetauscht wird, zumindest er selbst behauptet es, bevor er "fremde" Texte folgen lässt) doch immer die Möglichkeit der Lüge im Raum lässt

Es ist schon eine Weile her, daß ich den Roman gelesen habe, aber ich glaube, Grass führt sogar die Trommel als eigentlichen Erzähler der Geschichte ein (was recht gut passen würde zum Verzicht auf Schwarz/Weiß und auch zu Surrealismus.
Ich meine, es heißt im Roman hin und wieder mal "die Trommel diktiert mir...", aber damit wird sie meines Erachtens nicht zum Erzähler... (ich habe sie eher als Erinnerungsstütze mittels synästhetischer Assoziationen verstanden...) aber ja, die Glaubwürdigkeit und die Stellung des Erzählers werden damit sicherlich nochmal hinterfragt...
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