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The Deer Hunter - Die durch die Hölle gehen (Ex-Film der Woche)

Begonnen von Rollo Tomasi, 26 April 2010, 11:08:41

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Rollo Tomasi

Okay, dann versuche ich es mal.

Zunächst ein par persönliche Anmerkungen zu dem Film von mir:
Ich finde den Film hervorragend. Ich glaube, ich habe ihm 9/10 gegeben. Dass es keine 10/10 geworden ist, liegt nur daran, dass mir die letzte emotionale Verbindung zu dem Film fehlt.
Ich habe den Film das erste mal wohl so mit 16 gesehen, im Fernsehen.
Und mit 16 war ich wohl noch zu jung für den Film.
Ich wusste nichts darüber und dachte mir nach einer Viertelstunde: Mensch, ist der langweilig. Ich dachte, dass ist so ein Vietnam-Film, in dem es ordentlich kracht. Ab dann hatte ich abgeschaltet und den Film nur noch so nebenbei laufen lassen .... bis zu DER Szene in dem Film, der Russisch Roulette-Sequenz. Ich hatte keine Ahnung, wie der Film ausgeht und weiß heute noch, dass die Szene für mich fast nicht erträglich war. Ich musste zwischenzeitlich sogar abschalten, weil ich die Spannung nicht ertragen habe.
Und nach der Szene bin ich dann dran geblieben, bis zum Schluss, weil ich wissen wollte, was denn nun aus den drei Protagonisten wurde, im Leben nach dem Krieg.
Und kurz danach habe ich mir den Film dann noch einmal angesehen, und dann war ich mit voller Aufmerksamkeit dabei, und plötzlich war der Anfang gar nicht mehr langweilig.
Ich habe ihn beim zweiten Mal auch besser verstanden, denke ich.
Aber so richtig klar bin ich mir bei einigen Dingen noch heute nicht. Das ist übrigens auch einer der Gründe, warum ich diesen Film gewählt habe. Vielleicht kann ich hier im Forum zu dem Film auch noch etwas lernen.

Ich habe mir gedacht, dass ich die Diskussion über den Film vielleicht am besten in Gang bringe, wenn ich eine Reihe von Fragen stelle, von denen ich manche für mich selbst beantwortet habe und manche nicht.

Solche Fragen wären z. B.:

- Um noch einmal auf darauf zurück zu kommen: Kann man zu jung sein für den Film? Sollte man ein gewisses Alter erreicht haben, unabhängig von FSK-Vorgaben, bevor man den Film sieht?
- Um was handelt es sich bei "Deer hunter" eigentlich? Um einen Kriegsfilm, einen Antikriegsfilm, ein Vietnamfilm? Oder hat der Film vielleicht gar nichts mit Krieg zu tun? Geht es in dem Film um etwas ganz anderes, z. B. darum, was ein Krieg, jeder Krieg, aus den Menschen machen kann?
- Welche Aussage, Botschaft hat der Film? Warum?
- Welche Position nehmen die drei Protagonisten ein? Cimino sagt im Audiokommentar, dass die drei für das stehen, als was ein Mensch aus einem Krieg zurückkehren kann, als Lebender (wenn auch sicher psychisch versehrt), als Krüppel oder als Toter. Mir klang das ein wenig zu banal. Andere Vorschläge?
- Eine besondere Bedeutung scheint ja das Verhältnis Michael - Nick zu haben? Wodurch ist es gekennzeichnet?
- Warum schildert Cimino so lange das soziale Leben der Protagonisten?
- Warum hat er als sozialen Hintergrund für die Protagonisten den von russischen Einwanderern gewählt?
- Der Film heißt "Deer hunter", also in etwa "Wild Jäger". Und der Film hat zwei solcher Jagdszenen, am Anfang, vor dem Vietnameinsatz und danach. Welche Bedeutung haben sie?
- Welche Bedeutung hat die Russisch Roulette-Sequenz? Warum stellt Cimino die Vietnamesen als blutrünstige Zocker dar? Ist das nicht sogar rassistisch? Oder ist das ohne Bedeutung für die Aussage des Films? Ist diese Szene eine Metapher? Wenn ja, für was? Für die Zufälligkeit, die im Krieg über Leben und Tod entscheidet? Welche Wirkung hat die Szene auf euch? Warum drängt Michael Nick dazu, den im Käfig sitzenden Steve zu vergessen?
- Welche Bedeutung hat die letzte Szene, als die Familie oder das, was davon übrig ist, zusammen sitzt und beginnt, "God bless America" zu singen? Ist das patriotisch? Ist das ironisch? Oder singen sie einfach nur zusammen?
- Gibt es Unterschiede in der Inszenierung der Szenen in der Heimat und der Szenen in Vietnam?
- Wie sind die schauspielerischen Leistungen einzuordnen?
- Eine hypothetische Frage: Wie könnte Michael den Angehörigen, Freunden erklärt haben, dass Nick sich erschossen hat? Er hat ja immerhin Tausende Dollars bezahlt, um zu ihm zu gelangen, mit ihm zu spielen und dann zugesehen, wie Nick sich erschießt?
- Wie ist der Film im Kontext des nachfolgenden Cimino-Films "Heaven's gate" einzuordnen?
- Wie ist der Film im Vergleich zu dem ziemlich zeitgleich entstandenen "Apocalpyse now" einzuordnen?

Okay, das soll jetzt erst einmal genügen.
Wer den Film noch nicht gesehen hat, kann ich die Arthaus-DVD empfehlen. Neben der deutschen und der Originalfassung ist da auch ein Audio-Kommentar von Regisseur Michael Cimino drauf.

Ich bin meinerseits gespannt, was sich jetzt für eine Diskussion ergibt.
Und die Fragen sind nicht so zu verstehen, dass sie jetzt der Reihe nach beantwortet werden müssten, sie sollen nur als Anregung diesen, sich zu dem Film zu äußern.

Also, haut rein!
"Ich hab neulich gehört: 35 % der Zahlen und Fakten, die so kursieren, stimmen gar nicht! ... Das ist fast ein Drittel!" (Hagen Rether)
"Stellen sie sich einmal vor, es gäbe keine Autos, es gäbe keine Telefone und es gäbe keine Computer .... sie würden doch den ganzen Tag fernsehen, oder?" (Hagen Rether)

Riddick

Zu dem Alter-Thema: Mir ging es ganz ähnlich wie Rollo Tomasi. Als ich den Film das erste mal sah, fand ich ihn ebenfalls totlangweilig (war damals glaube ich sogar noch jünger als 16). Heute sehe ich das natürlich ganz anders und würde den Film auch als Klassiker bezeichnen.

Ich denke schon mal, dass man ein gewisses Alter braucht, um solche Filme mögen bzw. verstehen zu können. Als Kind/Jugendlicher fehlt einem einfach noch Lebenserfahrung. "The Deer Hunter" war auch nicht der einzigste Film, den ich als Kind schlecht fand und heutzutage in meinen Augen absolut großartig ist.

Wie schon gesagt: Heute mag ich den Film sehr. Trotzdem kann man ihn sich nicht alles halbe Jahr mal angucken, sondern nur in größeren Zeitabständen. Aber wenn ich ihn dann wieder mal in den Player schmeiße, beeindruckt mich der Film immer wieder aufs Neue.
"Schnell rennt das kriminelle Element,wenn es Dieter Krause kennt." - Tom Gerhardt (Hausmeister Krause)

ratz

Ich muß Adam Keshers Kritik in der OFDb im Wesentlichen recht geben. Ein Vorher-Nachher-Lehrstück, in dem treffsicher das Gitarrengeklimper eingeblendet wird, wenn der Zuschauer nachdenklich werden soll. Die sympathischen Dorftrottel machen ganz schöne Kulleraugen, als sie merken, auf was sie sich da eingelassen haben - guten Morgen. Das sicherlich erbaulich gemeinte und extrem platt eingebaute God Bless America zum Schluß wirkt aus dieser Perspektive direkt höhnisch, was bleibt den armen Sündern auch übrig, denen der Glaube an ihr Land und der Glaube an Gott das Gleiche ist ("Is that a Russian name?" - "It's American.").
Das russisch-orthodoxe Setting ist austauschbar, Hauptsache unaufgeklärt bzw. stark traditionsverhaftet und streng religiös, da hätte auch eine andere Glaubensgemeinschaft herhalten können. Vielleicht soll es auch nur beweisen, daß jeder noch so fremdartige kulturelle Hintergrund einen guten Amerikaner hervorbringen kann.

Der Vergleich mit Apocalypse Now verbietet sich beinahe. Hier haben wir konventionelles, geradliniges Erzählkino, ohne Auteur-Handschrift, mit klarem moralischen Ziel und emotionaler Hängematte. Dort haben wir den genialen und nicht wiederholbaren Wurf, der auf starker literarischer Vorlage beruht, psychologisch mehr Fragen als Antworten bietet und das Medium Film wenn nicht sogar über- so doch immerhin voll ausreizt. Das ist einfach mal eine andere Liga.

Das klingt jetzt etwas überspitzt, sicher hat Deer Hunter seine Berechtigung, und ich weiß nichts über die Situation, als der Film herauskam, und wie wichtig er damals für das Publikum war. Evtl. kann dazu jemand noch was sagen. Auch kann ich kein pubertäres Aha-Erlebnis bieten, aber das hat sicher auch Vorteile (bei mir sind das andere, nicht unbedingt geniale, aber eben geliebte Aha-Filme  ;))

cu, r.

Reiben

Was Adam Keshers Kritik betrifft: Teilweise würde ich ihm rechtgeben, denn es ist das tatsächlich ein simples Vorher-Nachher-Lehrrstück (was an sich aber nicht negativ zu bewerten ist). Was die Amerika-Darstellung anbelangt kann ich nicht viel zu sagen, da der Film mir in der Hinsicht im Moment nicht präsent genug ist. Aber ich weiß noch, dass der Film eine stark subjektive Erzählerposition einnimmt. Daraus allgemeine Intentionen herzuleiten, erscheint mir zu vorschnell.
Dem Film Rassismus vorzuwerfen, ist für mich absolut nicht nachvollziehbar. Keshers Review zeigt, dass er in keiner Form den hochgradig metaphorischen Charakter der Roulette-Szene und im Grunde genommen des gesamten Szenarios erkannt, geschweige denn verstanden hat. Die Angst vor der Willkür des Todes, die selbstzerstörerischen und selbstmörderischen Tendenzen im Krieg sind die zentralen transferierten Motive. Nicht der Gegner ist das Böse, sondern der Krieg.

Mein Kritikpunkt an dem Film ist ein anderer: Der Film ist in jeder Hinsicht wesentlich weniger komplex als seine Länge und die Thematik vermuten lassen. Ich bin mir aber selbst nicht ganz im klaren darüber, ob das nun negativ oder postiv zu bewerten ist.
.mirrorS arE morE fuN thaN televisioN

Rollo Tomasi

Cimino sagt selbst zu dem Schluss mit dem "God bles america", dass das überhaupt keine patriotische Geschichte sein soll.
Er meint, da würden halt einfach nur Leute zusammen singn und damit halt das bißchen Familie "feiern" wollen, was noch da ist.
Warum die dann "God bless america" singen, weiß ich auch nicht.
Es hätte ja dann auch ein anders Lied sein können.
Dass Cimino nicht grade der Vorzeigepatriot ist, zeigt sich auch am Nachfolgefilm "Heaven's gate".
Ich denke auch, dass das im wesenlichen ein Film ist, in dem es darum geht, zu zeigen, wie man den Krieg im allgemeinen überlebt oder eben nicht.
Das russisch-orthodoxe Setting ist IMO insofern austauschbar, als das hier gezeigt werden soll, dass Einwanderer halt auch den Kopf hingehalten haben, und das troz ihrer Geschichte, die in "Heaven's gate" thematisiert wird.
Was die Russisch Roulette Szene angeht, sehe ich das genau so wie Reiben: Es geht darum, zu zeigen, wie zufällig Krieg hinsichtlich seiner Auswirkungen sein kann, und deshalb auch, wie sinnlos.
"Ich hab neulich gehört: 35 % der Zahlen und Fakten, die so kursieren, stimmen gar nicht! ... Das ist fast ein Drittel!" (Hagen Rether)
"Stellen sie sich einmal vor, es gäbe keine Autos, es gäbe keine Telefone und es gäbe keine Computer .... sie würden doch den ganzen Tag fernsehen, oder?" (Hagen Rether)

pm.diebelshausen

27 April 2010, 17:42:12 #5 Letzte Bearbeitung: 27 April 2010, 18:25:04 von pm.diebelshausen
Mir brennt's zwar auf der Zunge, hier was zu schreiben, aber es ist zu lange her, dass ich den Film gesehen habe (1x) und ich hoffe, die Tage, eher am Wochenende noch dazu zu kommen, "The Deer Hunter" ein 2. Mal zu sehen.

Nur ein paar kurze Stichpunkte:

- ein wichtiger Kriegsfilm, weil er die Deformationen aufgrund des Krieges zeigt - das war ziemlich was Neues
- kein Vergleich mit "Apocalypse Now", weil viel zu verschiedene Ansätze - Coppolas Film zeigt die Deformation vor Ort in all ihrer anarchischen Absurdität
- die moralische Ebene (auch der Rassismus-Vorwurf) scheint nicht so einfach zu klären sein, wird in der Rezeption immer wieder betont oder entkräftet - aber abgesehen davon ist auch von den filmischen, erzählerischen, inszenatorischen Qualitäten des Films zu sprechen!
- Frage: spielt es eine Rolle, dass die Hauptfiguren russische Einwanderer sind und das perfide Spiel sich "russian roulette" nennt? Und wie steht es da mit dem Themenkomplex Kapitalismus (Amerika) und Sozialismus (Russland, Nordvietnam)? Das sind doch zumindest Dinge, die sich aufdrängen, wenn man nach dem Grund für die Wahl des sozialen Milieus etc. fragt...

EDIT: Ach so, noch zur Jagd, zum Roulette und zum Rassismus: in der Roulette-Szene wird gespiegelt, was in der Jagdszene bereits inszeniert ist: für den Jäger zum Spaß (oder Sport, jedenfalls nicht zum Essen und damit Überleben), für das gejagte Tier aber eine Frage von Leben und Tod - für die Vietnamesen zum Spaß, für die Amerikaner eine Frage von Leben und Tod. Da der Film die Jagdszene aber keineswegs mit Kritik inszeniert, sondern die Fähigkeiten des Jägers herausstellt, bis er den richtigen Moment des Schusses erreicht hat, findet meiner Meinung nach auch keine rassistische Bestialisierung der Vietnamesen in der Roulette-Szene statt, in der sie die Sport/Spaß-Rolle des Amerikaners eingenommen haben. Außerdem ist die Flammenwerfer-/MP-Aktion zu Beginn der Kriegsszenen auch nicht gerade zimperlich oder human.
Es gibt viele, die nicht reden, wenn sie verstummen sollten, und andere, die nicht fragen, wenn sie geantwortet haben.

Bretzelburger

Es gibt von mir eine ausführliche Review zum Film. Auch wenn ich das heute anders formulieren würde, inhaltlich hat sich meine Meinung nicht geändert.

Die konservativen russischen Einwanderer und das "God bless america" verdeutlicht die Perfidität in der Vorgehensweise der amerikanischen Regierung gegenüber der eigenen Bevölkerung. In Cinimos Film kommt nur eine kritische Stimme vor und der wird sofort widersprochen. Im Gegenteil bleiben die Menschen immer patriotisch und gegenüber ihrer Regierung unkritisch - Cinimo verzichtet bewusst auf die Anti-Vietnam-Bewegung, deren Argumente sowieso Jeder kannte, egal ob Sympathisant oder nicht, und stellt Menschen in den Mittelpunkt, die von ihrem Staat ausgenutzt werden, weil sie seinen Argumenten unkritisch glauben. Deshalb ist auch der beinahe dokumentarische erste Teil des Films so wichtig, weil sich darin sehr gut deren Haltung zum Leben und zum Staat manifestiert. Dass diese sich auch am Ende nicht geändert hat, obwohl inzwischen nur Unglück über sie herein gebrochen ist, entsprach nicht nur der Realität im Großteil besonders der arbeitenden Bevölkerung, sondern verhinderte auch, dass die Protagonisten zum Schluss als Linke diffamiert werden können.

Aus heutiger Sicht ist das schwer nachvollziehbar, aber die Haltungen gegenüber dem Vietnam-Konflikt zog einen Riss durch die Gesellschaft, der keine Diskussion zuliess - man war dafür oder dagegen. Cinimo versuchte nur wenige Jahre nach dem Ende des Krieges diesen Riss zu überwinden, indem er die konservative Bevölkerungsschicht in den Mittelpunkt stellte und damit demonstrierte, wie sehr sie auch unter dem Krieg zu leiden hatte, ganz ohne ideologische Sprüche und Parolen. Aus meiner Sicht ist das großartig umgesetzt, aber wirklich erfolgreich war er damit wohl nicht, denn diese Komplexität wurde von allen Seiten missverstanden.

Chowyunfat2

Zitat von: ratz am 27 April 2010, 01:54:10Auch kann ich kein pubertäres Aha-Erlebnis bieten

Ich habe den Film, hatte aber leider noch keine Zeit, ihn rechtzeitig nochmal anzusehen. Aber was das Aha-Erlebnis angeht, war es bei mir nicht nur die Roulette-Szene, die am meisten haften blieb, sondern auch die, als DeNiro während der Feier auf diesen Soldaten trifft, der gebeugt dasitzt, mit einer Spielverderberlaune, all das bereits erlebt zu haben, worauf sich der Rest in Patriotismus schwelgend so euphorisch freuen, völlig nonkonform zur feierlichen Stimmung DeNiro's *Filmname vergessen*, der deshalb nicht mit dieser Situation umgehen kann und entsprechend gereizt reagiert.
Das war eigentlich bereits die Szene, bei der ich das erste Mal schlucken musste. Diese Kontrastwirkung darin hatte schon einiges an Aussagekraft, fand' ich.
Alles habe ich sicher nicht in Erinnerung bzw. verstanden, werde mir daher den Film bis zum WE nochmal ansehen.

ratz

Zitat von: Reiben am 27 April 2010, 12:31:19

Mein Kritikpunkt an dem Film ist ein anderer: Der Film ist in jeder Hinsicht wesentlich weniger komplex als seine Länge und die Thematik vermuten lassen.


Volltreffer. Nicht der Film ist komplex, wie Bretzel meint, sondern höchstens die Situation, in der er erschien (oder erscheinen mußte). Als advocatus diaboli könnte ich jetzt rummäkeln, daß damit einem hysterischen Publikum nach dem Mund geredet wird: Daß in einer Kriegs- oder Nachkriegssituation von den Protagonisten nicht ein einziges Mal die Sinnfrage gestellt wird (von einer Beantwortung reden wir ja gar nicht), ist schon derbe unreflektiert und eigentlich eine verachtende Position ("Die Idioten kapieren das eh nicht").
Aber gut, man will ja als Filmemacher auch Geld verdienen bzw. das Projekt finanziert bekommen. Und mit Patriotismus klappt es da drüben ja immer, insofern will ich Cimino keinen Vorwurf machen, der sicher keinen "Paten" in der Hinterhand hatte, um etwas Avantgardistisches wie Apocalypse Now zu stemmen. Der humanistische Grundgedanke kommt immerhin mit Ach und Krach rüber (Ick lass den Hirsch ma leben).

Zitat von: pm.diebelshausen am 27 April 2010, 17:42:12

- Frage: spielt es eine Rolle, dass die Hauptfiguren russische Einwanderer sind und das perfide Spiel sich "russian roulette" nennt? Und wie steht es da mit dem Themenkomplex Kapitalismus (Amerika) und Sozialismus (Russland, Nordvietnam)? Das sind doch zumindest Dinge, die sich aufdrängen, wenn man nach dem Grund für die Wahl des sozialen Milieus etc. fragt...


Hm, weiß nicht, ob man in der Ecke fündig wird. Die starke Religiösität bedeutet ja automatisch schon Antikommunismus, von daher ist die Differenzierung zu den Nordvietnamesen eigentlich ausreichend angelegt. Gesellschaftmodelle werden, fürchte ich, nicht mal ansatzweise verhandelt - wie gesagt, unterkomplex, obwohl handwerklich tiptop. Und den Rassismusvorwurf will ich so gar nicht machen, eine ausführliches und/oder gerechtes Bild der Vietnamesen zu zeichnen war ja nicht die Absicht des Films.

cu, r.

Kill Mum!

"The Deer Hunter läuft heute nacht um 01.15 Uhr im Hessischen Rundfunk.
"I wish my life was a non-stop hollywood movie show,
A fantasy world of celluloid villains and heroes,
Because celluloid heroes never feel any pain
And celluloid heroes never really die." (The Kinks - Celluloid Heroes)

Bretzelburger

Zitat von: ratz am  6 Mai 2010, 23:49:13
Ja, die Beteiligung ist verhalten, aber das hatte ich kaum anders erwartet. Ein (wirklich ganz kleines) bißchchen gebe ich auch meinem eigenen Diskussionsstil die Schuld, der evtl. sehr kategorisch und Einwände abwürgend klingt ...

Stimmt - deine "der Bretzelburger hat unrecht" (sinngemäss) - Bemerkung, ohne selbst irgendein Argument zu nennen oder Details zu analysieren, hat bei mir jede Lust auf eine Diskussion unterdrückt. Nur einfach das Gegenteil zu behaupten und dabei Unsinn zu verbreiten :

"Aber gut, man will ja als Filmemacher auch Geld verdienen bzw. das Projekt finanziert bekommen. Und mit Patriotismus klappt es da drüben ja immer, insofern will ich Cimino keinen Vorwurf machen, der sicher keinen "Paten" in der Hinterhand hatte, um etwas Avantgardistisches wie Apocalypse Now zu stemmen."

ist keine Basis für ein Gespräch. Wer damals die Umstände zu dem Film mitbekommen hat, würde sich hüten etwas von Patriotismus zu erzählen. Diejenigen, die Cinimo kritisierte, wussten genau, wie er das meinte. Ob das komplex ist oder nicht, ob der Film oder der historische Hintergrund komplex sind oder nicht, ist dabei egal - der Film war nicht annähernd so oberflächlich, wie du ihn hier analysierst. Deshalb muss man ihn nicht mögen und man kann zur Darstellung des Vietkong geteilter Meinung sein, aber man sollte sich auch vor Augen führen, was Cinimo damit bezweckte, mehr als eine Stunde fast dokumentarisch das Leben der Stahlarbeiter zu zeigen.

Einfach nur die üblichen Parolen loszulassen, die damals schon als dämlich galten, halte ich für keinen guten Diskussionsstil und hat mit Filmanalyse nichts zu tun.

pm.diebelshausen

7 Mai 2010, 08:30:16 #11 Letzte Bearbeitung: 7 Mai 2010, 17:59:06 von pm.diebelshausen
Also, "cinimo" ist Kümmel [ital.] und "Vietkong" ist fast ein Affenfilm von Peter Jackson, aber ansonsten stimme ich Dir beinahe zu, Bretzel: ich fand Ratzens Gegenpost auch ziemlich schwach und plump. Aber das ist völlig ok, wenn Leute auch ihre eher allergisch gearteten Reaktionen auf Filme posten, statt dezidiert zu analysieren. Film ist für alle da, nicht nur für die Examinierten oder die, die sich dafür halten. Und wenn Ratz hier rumratzt, braucht man sich doch nicht ins Bockshorn jagen zu lassen. Er ist ja nicht der einzige Gesprächspartner.

Außerdem fand ich Deine Argumentation zum Film sehr interessant und auch überzeugend. Ob das bedeutet, dass der Film eine komplexe Struktur hat oder nicht, war mir da eher egal.

Interessant ist doch auf jeden Fall, wie sehr der Film da auch heute noch polarisiert und wie missverstanden (egal jetzt von wem) er nach wie vor häufig ist. Übrigens habe ich den Eindruck, dass er auch relativ "unbekannt" ist - d.h. nicht so exponiert wie z.B. "Apocalypse Now". Ich war jedenfalls erst relativ spät und auf Umwegen zu "The Deer Hunter" gekommen, was mich angesichts des Kalibers des Films (und auch der Produktion) dann etwas wunderte. Ich wusste vorher schon, dass es "Heaven's Gate" gibt! Erliege ich da einem biographischen Trugschluss, oder wird "The Deer Hunter" tatsächlich etwas gemieden, um nicht zu sagen boykottiert (abgesehen davon, dass er jetzt im HR lief)?
Es gibt viele, die nicht reden, wenn sie verstummen sollten, und andere, die nicht fragen, wenn sie geantwortet haben.

ratz

Zitat von: Bretzelburger am  7 Mai 2010, 04:02:21
Zitat von: ratz am  6 Mai 2010, 23:49:13
Ja, die Beteiligung ist verhalten, aber das hatte ich kaum anders erwartet. Ein (wirklich ganz kleines) bißchchen gebe ich auch meinem eigenen Diskussionsstil die Schuld, der evtl. sehr kategorisch und Einwände abwürgend klingt ...

Stimmt ...


Na, da kommt ja eine Katze aus dem Sack  :icon_mrgreen: - nur dachte ich, ich hätte nicht das Gegenteil behauptet, sondern die Komplexität quasi vom Film auf die Umstände verschoben. Das ist ein Argument, oder (auch wenn Du ihm nicht zustimmst)? Und als Nachgeborener nehme ich mir nun einmal das Recht heraus, die historisierende Position zu verlassen - ein gutes Werk muß das aushalten können.
Und warum die Aussage mit Coppola und Geld verdienen "Unsinn" sei, hast Du auch nicht argumentativ unterfüttert (was mich aber interessieren würde), wie auch "Einfach nur die üblichen Parolen loszulassen, die damals schon als dämlich galten" kein schöner Stil ist, sondern gefährlich an der persönlichen Beleidigung vorbeischrammt. Falls sich das vermeiden läßt, haben wir ja noch einige Tage, um die Fragen oben zu klären zu klären.

cu, r.

Bretzelburger

Das hat mit persönlicher Beleidigung nichts zu tun, da das "dämlich" sich auf eine Aussage und keine Person bezieht. Es ist viel mehr eine etwas grob ausgedrückte Haltung gegenüber einer Behauptung, die nur Vorurteile weiter tranportiert - Vorurteile, denen sich Cinimo schon vor 30 Jahren ausgesetzt sah.

Ganz schuldlos daran ist er nicht, denn sein Film besteht aus drei Teilen, die äußerlich sehr unterschiedlich wirken, weshalb sie gerne auseinander dividiert werden oder - wie meist beim ersten und längsten Teil - ganz aus den Überlegungen rausgelassen werden. Sowohl Kritiker als auch Anhänger stürzten sich auf Teil 2 mit De Niro als scheinbarem Helden. Die Einen sehen in diesem Part einen guten Actionfilm, andere eine plakative und vorurteilsbeladene Kritik an Vietnam (was auch zu den Protesten bei der Berlinale führte). Beide Haltungen sind falsch, weil sie nur losgelöst vom Rest des Films funktionieren. Teil 3 scheint nur die Konsequenzen aus Teil 2 zu schildern, was ebenso falsch ist, denn strenggenommen ist dessen zweite Hälfte eine Art vierter Teil, der wieder zu Hause bei den Stahlarbeitern spielt.

Die eigentliche Frage, die sich Jeder stellen müsste - warum zeigt Cinimo mehr als eine Stunde lang den Alltag der Stahlarbeiter, die auf die Jagd gehen, und die Hochzeit ? - Für den Storyaufbau oder die Dramatisierung hätten 10 Minuten locker genügt. Die Antwort ist nicht schwer - Cinimo kommentiert nicht, sondern beschreibt und dafür braucht er Zeit. Und diese Konsequenz hält er bis zum Schluß durch. Das macht die Besonderheit dieses Films aus, der sich nicht auf einen bestimmten Zug setzte, den er mit jeder konkreten Aussage, egal welcher politischen Richtung, bestiegen hätte. Auch wenn man damals nicht dabei war, kann man es sich denken - nach 10 Jahren Vietnam-Krieg gab es keine Sätze mehr, die nicht irgendwie besetzt gewesen wären.

Wer nur, weil die zurückgekehrten Soldaten am Ende immer noch kein kritisches Wort über den Staat verlieren, daraus Patriotismus herausliest, kann nicht zwischen den Zeilen lesen. Die offensichtliche Zerstörung von Leben oder mindestens der Psyche ist mit Händen greifbar, kein positiver Aspekt lässt sich aus den Kriegserlebnissen herausfiltern (selbst De Niro, der stabilste Charakter, ist nicht mehr der Alte) und das trotzdem kein kritisches Wort fällt, macht die Tragik erst wirklich deutlich, ohne sie an irgendwelche Ideologien zu verschenken. Das ist für mich in der Gestaltungsform innovativ, selbstständig und künstlerisch und muss sich vor "Apocalypse now" nicht verstecken, abgesehen davon, dass dieser Vergleich sowieso schwer hinkt. Man verzeihe mir deshalb, dass ich am Begriff "dämlich" festhalte, aber eine andere Meinung fällt mir zu einer solchen pauschalen, unbegründeten und ideologisch vereinfachenden Aussage nicht ein.

pm.diebelshausen

8 Mai 2010, 11:13:15 #14 Letzte Bearbeitung: 8 Mai 2010, 17:08:22 von pm.diebelshausen
Lass doch das "dämlich" einfach weg und sage "weniger differenziert". Wer irgendwelche Dinge nicht so en detail differenziert wie Du, macht weniger differenzierte Aussagen, nicht "dämliche". Tschuldigung, ich würde es auch persönlich nehmen, wenn jemand eine meiner Aussagen "dämlich" nennt, denn wer Dämliches sagt, kann schlecht klug sein.

Inhaltlich überzeugt mich, was Du schreibst. Offenbar hat Cimino (er heißt übrigens immernoch nicht "Cinimo", woran Du trotz meines deutlichen Hinweises oben festhältst - was Dich nicht dämlich, aber etwas undifferenziert macht) den Zuschauer mit "The Deer Hunter" überfordert - was vielleicht einerseits am generellen Umgang mit Film in Amerika und den konventionellen Sehgewohnheiten liegt, aber andererseits sicherlich viel mehr mit dem längst für jeden im Vorhinein belegten Thema dieses speziellen Krieges, so verstehe ich auch Deinen Satz

Zitatnach 10 Jahren Vietnam-Krieg gab es keine Sätze mehr, die nicht irgendwie besetzt gewesen wären

Zu Deiner 10-Minuten-These hätte ich aber gerne noch ein paar Worte mehr. Ich sehe Teil 1 des Films auch nicht als überlange Exposition, die dann auch in 10 Minuten ihre Funktion für den Film erfüllt haben könnte. Dennoch bedeutet dieser Teil auch mehr als eine bloße Beschreibung, die halt epischen Gestus braucht, um zu überzeugen. In diesem Teil bekommt die beschriebene Welt und bekommen die bechriebenen Figuren erst eine Wirklichkeit, die dann zerstört werden kann. Das wäre in einem kürzeren Zeitrahmen so nicht möglich. Und nach der Rückkehr aus Vietnam hat sich diese Welt - für die Rückkehrer - schließlich sehr verändert. Ich frage mich jetzt, ob da eigentlich Empathie und Sympathie aufgebaut wurde, bzw. wer in dem Film meine Identifikationsfigur ist. Vermutlich sind mir die Figuren relativ femd geblieben, was einerseits für mich den Beschreibungscharakter des Filmes sogar noch verstärkt hat, weil da immer etwas Distanz zu den Figuren blieb, andererseits bezüglich der "Blinde-Opfer-Thematik", die Du angerissen hast (trotz schrecklicher Erlebnisse im und für den Krieg entsteht keine Patriotismuskritik bei den Figuren des Films), eine ganz andere Wahrnehmung meinerseits ist, als die eines Amerikaners.
Es gibt viele, die nicht reden, wenn sie verstummen sollten, und andere, die nicht fragen, wenn sie geantwortet haben.

ratz


Ich mach mal was, was ich selbst eigentlich auch nicht so toll finde - Postings zitatweise auseinanderpflücken - aber es ist auch zu meiner Orientierung, bitte daher um Vergebung.

Zitat von: Bretzelburger am  8 Mai 2010, 03:35:19
Das hat mit persönlicher Beleidigung nichts zu tun, da das "dämlich" sich auf eine Aussage und keine Person bezieht.


Was auch immer. Bewahr einfach die Contenance, wenn mal jemand nicht Deine Ansicht teilt.

Zitat von: Bretzelburger am  8 Mai 2010, 03:35:19
Es ist viel mehr eine etwas grob ausgedrückte Haltung gegenüber einer Behauptung, die nur Vorurteile weiter tranportiert - Vorurteile, denen sich Cinimo schon vor 30 Jahren ausgesetzt sah.


Ich darf Dich beruhigen: Ich habe mein Urteil erst im kritischen Wäldchen gefällt und zurechtgeschnitzt, nachdem ich den Film gesehen habe, und hatte es nicht in meinem immerhin recht umfangreichen Vorurteilsarsenal.

Zitat von: Bretzelburger am  8 Mai 2010, 03:35:19
Sowohl Kritiker als auch Anhänger stürzten sich auf Teil 2 mit De Niro als scheinbarem Helden ...


In diesen Belangen will ich Dir gar nicht widersprechen, und Vietnamkriegsgegner zu sein hatte ich nie auch nur Gelegenheit. Insofern streift mich Dein Vorurteilsvorwurf von oben nicht einmal, da ich mich keiner der beschriebenen Gruppierungen zugehörig fühle & fühlen kann. Hab auch keinen Schimmer, was damals bei der Berlinale los war *shrug* - Du jagst in dieser Hinsicht  Phantasmen.

Zitat von: Bretzelburger am  8 Mai 2010, 03:35:19
... warum zeigt Cinimo mehr als eine Stunde lang den Alltag der Stahlarbeiter, die auf die Jagd gehen, und die Hochzeit ?


Trau den Leuten hier ruhig zu, daß darauf kommen können. Ich würde z.B. auch antworten: Weil wir einem ganz klassischen Bildungsroman beiwohnen. Die De Niro-Figur, die zwar nicht im Zentrum, aber doch als primus inter pares herausgestellt wird, macht eine humanistische Entwicklung durch, und die muß, wie Du richtig sagst, breit expositioniert (gibt es das?) werden.

Zitat von: Bretzelburger am  8 Mai 2010, 03:35:19
Wer nur, weil die zurückgekehrten Soldaten am Ende immer noch kein kritisches Wort über den Staat verlieren, daraus Patriotismus herausliest, kann nicht zwischen den Zeilen lesen.


Das habe ich so auch nicht formuliert, sondern ich meinte, und das habe ich evtl. nicht klar herausgestellt, daß bei der Arbeit mit solcherlei - am gemeinen Publikumsgeschmack gemessenen - Subtilitäten der Beifall aus beiden Lagern gesichert wird, also auch aus der konservativen oder sagen wir mal unreflektierten Ecke. Was damals, wie Du beschreibst, nicht anders möglich war und Du als Stärke empfindest, darf doch bitteschön aus heutiger, unabhängiger Sicht von Nicht-Betroffenen als problematisch betrachtet werden. Daß die notwendige Verschlüsselung von Standpunkten in politisch schwierigen Zeiten beachtliche Blüten mit poetischer Potenz treiben kann, ist mir nicht unbekannt, allerdings hat es dann bei Cimino nur zu einem bescheidenen Bouquet gereicht.
Ich möchte außerdem an mein oben erwähntes Argument erinnern, daß die Tatsache, daß sich die Protagonisten zu keinem Zeitpunkt (nicht mal zum schlimmsten) die Sinnfrage - und damit meine ich nicht Staatskritik! - stellen, beinahe der Beleidigung des proletarischen Intellekts gleichkommt. Selbst dem einfältigsten Simpel darf zugetraut werden, daß er sich, bis zum Hals in vietnamesischen Wasser, fragt, was er hier eigentlich tut. Und ich bin der letzte, der einem gesunden und reflektierten Patriotismus abhold ist.

Zitat von: Bretzelburger am  8 Mai 2010, 03:35:19
Man verzeihe mir deshalb, dass ich am Begriff "dämlich" festhalte, aber eine andere Meinung fällt mir zu einer solchen pauschalen, unbegründeten und ideologisch vereinfachenden Aussage nicht ein.


Den ollen Totschlage-Kampfbegriff "ideologisch" lassen wir mal lieber in der 68-er Waffenkammer, denn er hilft rein gar nichts. Und natürlich verzeihe ich Dir, denn womöglich ist der Begriff "dämlich" vielleicht sogar ein Element des "guten Diskussionsstils" und hat obendrein mit den höheren Weihen der "Filmanalyse" zu tun? In meiner Unwissenheit blieb mir nichts, als ein paar Sarkasmen wirkungslos verpuffen zu lassen  ;)

cu, r.

pm.diebelshausen

9 Mai 2010, 00:56:35 #16 Letzte Bearbeitung: 9 Mai 2010, 01:05:49 von pm.diebelshausen
Zitat von: ratz am  8 Mai 2010, 23:37:53
ich meinte, und das habe ich evtl. nicht klar herausgestellt, daß bei der Arbeit mit solcherlei - am gemeinen Publikumsgeschmack gemessenen - Subtilitäten der Beifall aus beiden Lagern gesichert wird, also auch aus der konservativen oder sagen wir mal unreflektierten Ecke. Was damals, wie Du beschreibst, nicht anders möglich war und Du als Stärke empfindest, darf doch bitteschön aus heutiger, unabhängiger Sicht von Nicht-Betroffenen als problematisch betrachtet werden.

Vielleicht ist das aber überhaupt kein Problem des Zeitgeistes oder historischen Abstands, sondern eines des offenen Kunstwerks, das vom Betrachter erst vollendet wird. Immerhin haben wir es hier im weitesten Sinne mit einem Kriegsfilm zu tun und (ohne jetzt und hier wirklich dieses Fass aufmachen, aber es dennoch erwähnen zu wollen) bezüglich dieses Genres wird immer eine moralische Positionierung des jeweiligen Films, am besten als sog. "Antikriegsfilm"  verlangt. Dass der Begriff des Antikriegsfilms absolut problematisch und wahrscheinlich sogar unbrauchbar ist, ist ein weites und anderes Thema. Aber mir fällt das ein, weil es in gewisser Weise dabei auch um die Konfrontation reaktionär-militaristischer und progressiv-pazifistischer Positionen geht - und insofern passt das auch auf die Debatte um "The Deer Hunter". Selbst die Filme, die noch am ehesten und einhelligsten als "Antikriegsfilme" kanonisiert sind, taugen zur Aufmunterung innerhalb der heutigen Truppen z.B. im Irak und da findet keinerlei kritische Hinterfragung der moralischen Möglichkeit von staatlich erlaubten Tötungen statt. Das, was Ratz schreibt, passt also sehr gut zu Bretzels Erläuterung zum Film, was die unreflektierte Haltung einer Masse konservativer Amerikaner, die sowas wie den Vietnamkrieg erst möglich machen, betrifft.

Ich glaube weniger, dass der Film sich beide Lager als Zuschauer warmhalten wollte, sondern dass er eben das Wagnis einging, keine klare moralische Haltung an der Oberfläche mitzuliefern. Das meine ich mit Überforderung der Zuschauer. Das ist aber auch eine relativ ungewöhnliche Qualität. Was wollen wir eigentlich immer von Filmen? Wahrheiten und Antworten? Ist das nicht etwas viel verlangt und eigentlich Quatsch, weil Filme Kunst sind und nicht Erlösungsprogramme, die uns retten sollen?

Zitat von: ratz am  8 Mai 2010, 23:37:53
Ich möchte außerdem an mein oben erwähntes Argument erinnern, daß die Tatsache, daß sich die Protagonisten zu keinem Zeitpunkt (nicht mal zum schlimmsten) die Sinnfrage - und damit meine ich nicht Staatskritik! - stellen, beinahe der Beleidigung des proletarischen Intellekts gleichkommt. Selbst dem einfältigsten Simpel darf zugetraut werden, daß er sich, bis zum Hals in vietnamesischen Wasser, fragt, was er hier eigentlich tut.

Schön wär's ja, aber ich fürchte so funktioniert es nicht. Was er hier tut? Er erfährt, dass Vater Staat ganz Recht hatte, wenn er ihm beibrachte, dass der Vietcong (und andere Kommunisten) echt fies sind, und gut daran tat, militärisch gegen dieses "Gesocks" vorzugehen. Wären Kriegserfahrungen tatsächlich so läuternd, wie Du meinst, dann gäbe es kaum mehr ausreichend überzeugte Soldaten, weder heimgekommene, noch angehende. Was bleibt ist die Frage nach der eigenen Biographie und wie sich das Erlebte da einordnet. Und genau das erzählt "The Deer Hunter".

Es gibt viele, die nicht reden, wenn sie verstummen sollten, und andere, die nicht fragen, wenn sie geantwortet haben.

Bretzelburger

ZitatIn diesen Belangen will ich Dir gar nicht widersprechen, und Vietnamkriegsgegner zu sein hatte ich nie auch nur Gelegenheit. Insofern streift mich Dein Vorurteilsvorwurf von oben nicht einmal, da ich mich keiner der beschriebenen Gruppierungen zugehörig fühle & fühlen kann. Hab auch keinen Schimmer, was damals bei der Berlinale los war *shrug* - Du jagst in dieser Hinsicht  Phantasmen.
Sowohl das "dämlich" als auch die genannten Argumente bezogen sich keineswegs nur auf dich, sondern waren generell gemeint, gerade in der Hinsicht, dass schon Ende der 70er Jahre ähnlich argumentiert wurde. Mit "Phantasmen" hat das deshalb auch nichts zu tun.

ZitatDen ollen Totschlage-Kampfbegriff "ideologisch" lassen wir mal lieber in der 68-er Waffenkammer,
Den hast du doch dort herausgeholt, denn Aussagen wie "Und mit Patriotismus klappt es da drüben ja immer" ist nichts anderes als ideologisches Gerede.

Unabhängig davon, empfand ich deinen Beitrag aber als konstruktiv, besonders die schon von P.M. herangezogene Bemerkung, aus heutiger Sicht könnte man die fehlende klare Haltung kritisieren. Es gab hier schon in vielen Threads Diskussionen darüber, ob man aus dem historischen Kontext herausgenommen, einen Film nach heutigen Wertmassstäben kritisieren darf, aber bei "Deer hunter" stellt sich die Frage letztlich nicht. Genauso wie es keine Beleidigung der Protagonisten ist, ihnen keine kritische Haltung zuzugestehen.

Man muss sich doch nur ansehen, wen Cimino in den Mittelpunkt stellt - Einwanderer russischer Herkunft, die erst wenige Generationen dort leben und für die dieses Land heilig ist. Die Studentenbewegung oder Vietnamproteste sind für diese Menschen, die jeden Tag unter schwierigsten Umständen schuften, nicht zu verstehen. Cimino beschreibt ja sehr schön, dass auch ihr bisheriges, bürgerliches Leben alles andere als leicht ist. Trotzdem protestiert Niemand wegen der Arbeitsbedingungen oder der unschönen Umwelt. Amerika war zu diesem Zeitpunkt, Anfang der 70er Jahre, das luxuriöste und modernste Land der Welt, aber an diesem Ort merkt man nichts davon. Zum Protestieren hätten sie rational genug Grund gehabt, aber sie waren dankbar, dass sie noch eine Chance bekommen haben. Das Amerika diese "Söhne des Landes" nach Vietnam schickte, ist in etwa so, als wenn eine Mutter ihr bravstes Kind persönlich zur Schlachtbank schickt - großartig argumentieren braucht man da nicht mehr.


ratz

11 Mai 2010, 00:15:44 #18 Letzte Bearbeitung: 15 Mai 2010, 21:50:10 von MMeXX
Zitat von: Bretzelburger am  9 Mai 2010, 01:37:05

Es gab hier schon in vielen Threads Diskussionen darüber, ob man aus dem historischen Kontext herausgenommen, einen Film nach heutigen Wertmassstäben kritisieren darf, aber bei "Deer hunter" stellt sich die Frage letztlich nicht. Genauso wie es keine Beleidigung der Protagonisten ist, ihnen keine kritische Haltung zuzugestehen.


Natürlich stellt sich die Frage, sonst hätten wir doch das ganze Gewese hier nicht  ;) - Aber schön, nach gelegentlichem Hin- und Hergedrehe der Materie bin ich bereit, zumindest die Vorwurfs-Haltung abzulegen und den speziellen Blickwinkel Ciminos auf das spezifische Milieu und die dazugehörige Geisteshaltung anzuerkennen.
Trotzdem behalte ich mir vor, nicht komplett begeistert zu sein und den Eiertanz um die zeitgenössischen Sentimentalitäten herum - aus heutiger Sicht und in der Bilanz - als Nachteil zu sehen. Etwas Subversivität haben beim Thema Krieg auch andere prima hingekriegt, ohne als langhaarige Vaterlandsverräter zu gelten. Daß der Film ein ganz übles Machwerk sei, kann freilich niemand behaupten, und das will ich ja auch nicht. Und daß er offensichtlich immer noch genug Potential hat, kontrovers diskutiert zu werden, ist sicherlich auch ein Qualitätsmerkmal.

So, das ist doch mal eine Friedenspfeife! Und jede Menge Anknüpfungspunkte für den nächsten "Kriegsfilm" (neutral verwendet für einen Film, der den Krieg behandelt  ;)) The Thin Red Line, den ich Donnerstag oder Freitag vorstelle.

Zitat von: pm.diebelshausen am  9 Mai 2010, 00:56:35
Selbst die Filme, die noch am ehesten und einhelligsten als "Antikriegsfilme" kanonisiert sind, taugen zur Aufmunterung innerhalb der heutigen Truppen z.B. im Irak


Denkst du auch an Jarhead? Ob der inzwischen auch von den Truppen geschaut wird?  :icon_mrgreen:

Zitat von: pm.diebelshausen am  9 Mai 2010, 00:56:35
Wären Kriegserfahrungen tatsächlich so läuternd, wie Du meinst, dann gäbe es kaum mehr ausreichend überzeugte Soldaten, weder heimgekommene, noch angehende.


Ich will noch mal betonen, daß ich alles andere als antimilitaritisch eingestellt und auch überzeugt bin, daß manche Kriege ausgefochten werden müssen. Aber das hat eben unter gründlichster Prüfung der Umstände und auch der eigenen Überzeugung zu geschehen. Insofern das nicht geschieht, will ich die Schuld auch nicht dem einzelnen Soldaten geben, sondern dem jeweiligen militärischen bzw. weltanschaulichen Apparat.

cu, r.

MMeXX

31 Juli 2014, 10:45:55 #19 Letzte Bearbeitung: 31 Juli 2014, 10:51:42 von MMeXX
Hierzulande gibt es ja derzeit (Wieder)Aufführungen im Rahmen des Arthaus Festivals. In Großbritannien startet der Film morgen mal wieder auf der großen Leinwand. und dazu gibt es unter anderem dieses geile Poster von La Boca:



Es wird wohl auch Verwendung als Cover des Steelbooks finden.

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